Kommentar |
Als „soziale Pathologien“ werden in der gegenwärtigen Sozialphilosophie soziale Fehlentwicklungen und Störungen bezeichnet, die verhindern, dass die Menschen ein gutes Leben nach ihren eigenen Vorstellungen führen können. Thematisierbar werden mit diesem Konzept die überindividuellen, sozialen Bedingungen individueller Selbstverwirklichung und deren Störungen, die sich in sozial induziertem Leid niederschlagen. Zur Debatte stehen dabei aber nicht nur die Kriterien für solche gesellschaftlichen Störungen, sondern immer mehr auch das Verhältnis zwischen den subjektiven Indikatoren solcher Fehlentwicklungen und dem Aufweis objektiver Krisentendenzen sozialer Institutionen und Praktiken.
Die Produktivität des Konzepts muss sich so einerseits anhand seiner Fähigkeit, philosophisch reflektierte Zeitdiagnosen zu ermöglichen, erweisen; aus philosophischer Sicht wirft der Versuch, eine spezifisch pathologiediagnostische Perspektive auf das Soziale herauszuarbeiten, gleichzeitig zahlreiche grundlagentheoretische Probleme auf. Welche Vorstellung von Gesellschaft steht beispielsweise hinter der Vorstellung, dass die Gesellschaft nicht nur in einem aggregativen Sinn die in ihr lebenden Individuen krank mache, sondern in ihrer institutionellen Verfasstheit selbst als pathologisch begriffen werden kann? Wie genau verhalten sich objektive Krisentendenzen und subjektive soziale Leiderfahrung zueinander? Und benötigt eine sozialphilosophische Pathologiediagnose als normativen Maßstab eine Ethik des guten Lebens oder lässt sie sich sozialtheoretisch ausweisen?
Im Seminar werden wir mit Rousseau, Hegel und Marx zunächst einige historisch stichwortgebende Positionen der Pathologiediagnose untersuchen; anschließend werden wir u.a. mit Arendt, Dewey und Georg Simmel einige der systematischen Problembezüge (Versachlichung, der Verfall der Öffentlichkeit und das Auftreten gesellschaftlicher Erfahrungsblockaden) weiterverfolgen. Schließlich werden wir uns spezifischen Pathologiediagnosen und sozialen Krisen wie beispielsweise den Pathologien der Arbeit oder der Vermarktlichung als Pathologie zuwenden, sowie die virulenten Zeitdiagnosen der Beschleunigung und Depression pathologiediagnostisch in den Blick nehmen. Abschließend und auswertend werden wir anhand der Diskussionsbeiträge von Honneth, Neuhouser und weiteren die angesprochenen konzeptuellen Fragen nach der sozialontologischen Grundlage einer Pathologiediagnose diskutieren und sie ins Verhältnis zum Konzept sozialer Krisen setzen.
Zur Einführung in die Problematik: Axel Honneth, „Pathologien des Sozialen. Tradition und Aktualität der Sozialphilosophie“, in: Pathologien des Sozialen, Frankfurt a.M. 1996. |