Kommentar |
Dass der Friedensschluss nach dem Ersten Weltkrieg von deutscher Seite vor allem als Diktat und Trauma erlebt wurde, ist hinreichend bekannt. Trotzdem greift es zu kurz, „Versailles“ lediglich auf einen Komplex aus innenpolitischer Empörung und außenpolitischem Revisionismus zu reduzieren. Vor allem die oft schematisch behandelte Nach- und Umsetzungsgeschichte des Friedensvertrages bedarf eines genaueren Blicks, der über die „Erfüllungspolitik“ der deutschen Regierungsspitze hinausgeht und sich auf die tatsächliche Durchführung vor Ort richtet. Hier setzt das Seminar an. Es untersucht die Umsetzung einzelner Bestimmungen des Versailler Vertrages mit dem Ziel einer Phänomenologie staatlicher Herrschaft zwischen internationalen Verpflichtungen und lokalen Bedingungen. Gegen die übliche Auffassung eines monolithischen Staatsapparates, der die Vertragsbestimmung mechanistisch von oben nach unten durchgesetzt habe, soll nach den instabilen Machtarrangements zwischen verschiedenen Trägern hoheitlicher Gewalt gefragt werden, wie sie in der Weimarer Republik, aber auch in den Abtretungsgebieten, in den besetzten Territorien und den angrenzenden Ländern bestanden. Mit welchen politischen Praktiken, Symboliken oder Semantiken war die Ausführung des Friedensvertrages auf lokaler, nationaler und internationaler Ebene verknüpft? Wie verbanden sich auf deutscher Seite der Wunsch nach umfassender Revision und das Gebot notwendiger Akzeptanz in einzelnen Verwaltungsakten? Welche Beziehungen innerhalb und außerhalb der offiziösen Diplomatie bestanden zu den interalliierten Kontrollkommissionen, zur Pariser Botschafterkonferenz oder zum Völkerbund? Das Forschungsseminar ist an ein aktuell am Institut für Geschichtswissenschaften durchgeführtes Projektvorhaben angeschlossen und wird vom bologna.lab der Humboldt-Universität als „Q-Team“ gefördert. Die Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind eingeladen, im Rahmen der übergreifenden Fragestellung eigene Projektideen zu entwickeln und selbstständig zu verfolgen. Insbesondere dient das Seminar zur Vorbereitung von Abschlussarbeiten, an die durch gemeinsame Lektüre, Einführung in die Archivarbeit und Werkstattdiskussionen herangeführt wird. Die Präsentation der wesentlichen Forschungserträge soll auf einem institutsöffentlichen Workshop erfolgen, die Publikation einzelner Beiträge ist unter Umständen möglich. Hinweis: Das Seminar schließt an eine gleichnamige Veranstaltung aus dem Sommersemester 2014 an, kann aber unabhängig besucht werden. Neue Teilnehmerinnen und Teilnehmer sind herzlich willkommen. |
Literatur |
Manfred F. Boemeke/Gerald D. Feldman/Elisabeth Glaser (Hrsg.), The Treaty of Versailles. A reassessment after 75 years, New York 1998; Conan Fischer/Alan Sharp (Hrsg.), After the Versailles Treaty. Enforcement, Compliance, Contested Identities, London, New York 2008; Margaret MacMillan, Peacemakers. The Paris Conference of 1919 and its attempt to end war, London 2001. |