Kommentar |
Unter den sozialen Verhältnissen, die wir für kritikwürdig halten, gibt es einige, die wir deshalb kritisieren, weil es sich um Verhältnisse der Ausbeutung handelt. In solchen Verhältnissen profitiert für gewöhnlich eine Partei in einer Weise von der Interaktion mit anderen, die wir empörend finden: Ausbeutung liegt möglicherweise dann vor, wenn ein Unternehmen Profite dadurch erwirtschaftet, dass es die ArbeiterInnen in einer Textilfabrik in Bangladesch nicht angemessen bezahlt und die Arbeit in sweatshops stattfindet; eine arbeitslose Frau ihre reproduktiven Fähigkeiten gegen Bezahlung einem kinderlosen Paar zur Verfügung stellt (Leihmutterschaft); die Angehörigen der Arbeiterklasse ihre Arbeitskraft an Angehörige der kapitalistischen Klasse verkaufen müssen und letztere deshalb einen Teil der Arbeitszeit für die Erwirtschaftung von Profiten nutzen können; in einer patriarchischen Gesellschaft die Institution der Ehe und Genderstereotype dazu führen, dass die häusliche Reproduktionsarbeit überwiegend von Frauen geleistet, aber diese keine Ansprüche auf materielle und gesellschaftliche Anerkennung begründet. Was ist all diesen Fällen gemeinsam (bzw. denjenigen, die wir als paradigmatisch für Ausbeutung betrachten)? Obwohl in all diesen Fällen die Ausbeutenden die Ausgebeuteten nicht dazu zwingen, ihnen einen bestimmten Vorteil zu verschaffen, spricht viel dafür, dass zumindest einige davon – auch abhängig von der weiteren Charakterisierung – als kritikwürdig gelten können. Liegt dies daran, dass die Ausgebeuteten keine akzeptablen Alternativen zur Ausbeutung haben? Oder dass nur die Ausbeutenden profitieren? Alle obigen Fälle ließen sich jedoch so konstruieren, dass die ausgebeuteten Personen über akzeptable Alternativen verfügen und dabei trotzdem die Situation der Ausbeutung gegenüber allen anderen Alternativen vorziehen, weil sie selbst davon profitieren. Bleibt trotzdem noch etwas an diesen Situationen problematisch, das wir nur mit dem Begriff der Ausbeutung erfassen? Welche Rolle spielt z. B. die Entstehung der Ausgangsbedingungen (die Verteilung von Handlungsoptionen und Ressourcen) oder die Tatsache, dass sich die Ausgebeuteten jeweils in einer verletzbaren Lage befinden, die von den Ausbeutenden für ihre Zwecke und unangemessen instrumentalisiert wird? Im Seminar sollen unterschiedliche Definitionsvorschläge für den Ausbeutungsbegriff und Kriterien dafür, wann und warum Ausbeutung moralisch problematisch ist, diskutiert werden. Wir werden dabei sowohl historisch einflussreiche Texte (z. B. von Karl Marx) als auch gegenwärtige Diskussionen behandeln. Gegenwärtig ist der Ausbeutungsbegriff deshalb besonders interessant, weil er sowohl in Diskussionen auftaucht, die im Kontext der liberalen politischen Philosophie, des analytischen Marxismus und der feministischen Philosophie geführt werden. Zwischen diesen unterschiedlichen Definitionsvorschlägen bestehen signifikante Meinungsunterschiede – z. B. darüber, welche Fälle als paradigmatisch für Ausbeutung betrachtet werden sollten –, aber auch viele interessante Gemeinsamkeiten. Diskussionen des Ausbeutungsbegriffs mit Blick auf eines oder einige der obigen Beispiele: Alan Wertheimer u. Matt Zwolinski, „Exploitation“, in: Edward N. Zalta (Hg.) Stanford Encyclopedia of Philosophy, 2012 (online: http://plato.stanford.edu/entries/exploitation/); Elizabeth Anderson, „Is Women’s Labor a Commodity?“, in: dies., Value in Ethics and Economics, Cambridge/London 1993, Kap. 8, S. 168-189; Hallie Liberto, „Exploitation and the Vulnerability Clause“ in: Ethical Theory and Moral Practice (i. E., online unter: http://web2.uconn.edu/philosophy/department/Liberto/pdf/exploitation%20and%20the%20Vulnerability%20Clause.pdf); G. A. Cohen, „Exploitation in Marx: What Makes It Unjust?“, in: Self-Ownership, Freedom, and Equality, Cambridge, Paris 1995, S. 195-208. |