Kommentar |
Die schöne Literatur, insofern sie Fragen nach dem richtigen und falschen Handeln stellt oder sogar Antworten gibt, ist Teil der Lebenswelt. Sie partizipiert damit am ethischen Diskurs oder versteht sich sogar als dessen Vorbild. Das Ästhetische, wie gern behauptet, steht nicht dem Ethischen gegenüber, sondern ist dessen Repräsentations- und Reflexionsform. Dabei zeichnet sich im Übergang vom 17. zum 18. Jahrhundert, d.h. seit der Aufklärung, ein entscheidender Wandel ab: Literatur musste nicht mehr die ethischen Normen bestätigen, sondern wurde freies Medium der ethischen Reflexion. In der Literaturwissenschaft der letzten Jahrzehnte hat man das zunehmend erkannt und sogar von einem ‚ethical turn‘ gesprochen, wobei dieser sich auf den Gegenstand und auf die Methode zugleich bezieht. Die Vorlesung möchte in diesen Zusammenhang einführen und gliedert sich in einen theoretischen und in einen praktischen Teil: Am Beginn des theoretischen Teils steht eine Auseinandersetzung mit Aristoteles’ „Nikomachischer Ethik“, die von Martha Nussbaum, der Wortführerin der literarturwissenschaftlichen Ethik, jüngst eine Aufwertung erfahren hat. Auch werden literaturwissenschaftliche Ansätze zur literarischen Ethik (Bachtin, W. Booth, Nussbaum), wiederkehrende Konzepte innerhalb des ethischen Denkens, semantische Überschneidungen (Moral/Ethik) sowie das Verhältnis von Ethik und Rhetorik diskutiert. Im praktischen Teil werden zum einen dezidiert poetische Gattungen (Fabel, Charakteristik) und Genres (Moralistik) vorgestellt; zum anderen epochenorientierte Zugänge zu einzelnen Autoren eröffnet, um den Übergang von der heteronomen zur autonomen ethischen Reflexion an Grimmelshausen (Barock), Lessing (Aufklärung), Goethe und Schiller (Weimarer Klassik), Kleist (Romantik) und Nietzsche (Ästhetizismus) zu veranschaulichen. |