Kommentar |
Verwandtschaft, das war historisch in der Ethnologie ein Schlüsselbegriff zur Erforschung fremder oder „primitiver“ Gesellschaftsstrukturen. Schon damals stritt man sich immer wieder darum, in welchem Verhältnis eigentlich soziale Beziehungen zu biologischer Reproduktion standen. (Stieß man doch auf Verwandtschaftssysteme die so überhaupt nicht übereinstimmten mit westlichen Vererbungs- und Verwandtschaftsvorstellungen: Onkel die immer die Vaterrolle für ihre Neffen übernahmen, Ehemänner die sich freuten, ihre Frauen nach 1 jähriger Abwesenheit mit einem neuen gemeinsamen Kind anzutreffen...). Ausgehend von den historischen Debatten - in denen letztendlich „große Themen“, wie das Verhältnis (oder die Vermischung) von Sozialität und Biologie oder Natur und Kultur verhandelt wurden - beschäftigt sich die Sozial- und Kulturanthropologie bzw. Europäische Ethnologie heute auch mit Verwandtschaft als Ordnungsmodus in sog. westlichen Gesellschaften. In jüngster Zeit rückten dabei auch medizinische und technologische Entwicklungen (assistierte Reproduktion, Gentechnik etc.) in den Blickwinkel ethnographischer Forschungen, weil ihnen zumindest das Potential zugeschrieben wird herkömmliche Verwandtschaftsvorstellungen und Praktiken in Frage zu stellen und sie die Gesellschaft mit grundlegenden sozialen, rechtlichen, und ethischen Problemkonstellationen konfrontieren. Mit diesem Fokus tritt die neuere Verwandtschaftsethnologie in Dialog mit anderen Forschungsbereichen, wie den interdisziplinären Science and Technology Studies, der Bioethik, Wissenschaftsphilosophie und den Gender Studies. Ziel des Seminars ist es ist die historische Entwicklung der Verwandtschaftsethnologie nachzuvollziehen und sich dann aktuellen disziplinären und interdisziplinären Studien und Diskussionen zum Verwandtschaft-machen in zeitgenössischen "westlichen" Gesellschaften zu zuwenden. Hier wird es zum Beispiel darum gehen, ob und wie die Reproduktionsmedizin möglicher Weise neue Verwandtschaftsformen produziert und ob Verwandtschaft "always already" heterosexuell ist. Das Seminar richtet sich an BA Studierende der unteren Semester und hat Einführungscharakter. Eine fundierte Lesefähigkeit englischer Texte ist allerdings Teilnahmevorraussetzung. Das Seminar ist als Mischform zwischen normalen Sitzungen und Blocksitzungen geplant: In den vier Auftaktsitzungen wird ohne Referate und stärker Input- und Diskussions-orientiert gearbeitet. In den zwei abschließenden ganztägigen Blocksitzungen zum Semesterende werden die vorher vergebenden Referate/Recherchethemen vorgestellt und diskutiert und einzelne Forschungen und Forschungsbereiche beleuchtet. |