Kommentar |
Große Städte sind im 19. und frühen 20. Jahrhundert etwas Aufregendes und Verunsicherndes, weil nicht nur deren Wirtschaft, Verkehr und Architektur „neu“ und „fremd“ erscheinen, sondern vor allem auch die darin nun lebenden Menschenmassen. Diese städtische „Masse“ erscheint anonym, ist vielfach zugewandert, lässt sich nicht so recht identifizieren. Dennoch scheint sie irgendwie verbunden durch gemeinsame „lokale“ Lebensbedingungen, Lebensstile, Mentalitäten. Was Historiker und (Laien)Volkskundler im 18. Jahrhundert begonnen hatten: den „Volkscharakter“ ländlicher Regionen von den Oberbayern bis zu den Friesen zu bestimmen, wird daher nun auch bei dem neuen „sozialen Wesen“ des Großstädters versucht. Nicht nur, aber vor allem auch in Berlin. In Witzen und Erzählungen, Pamphleten und Karikaturen, Zeitungsartikeln und Romanen, mentalitätsgeschichtlichen Abhandlungen und volkskundlichen Studien wird der Berliner „Großstadtmensch“ als eigener „Stamm“ beschrieben. Von der „Schnauze“ bis zum „Eckensteher“, von der „Boulette“ bis zur „Göre“ werden nun vermeintliche kulturelle Lokaltraditionen mit der (neuen) urbanen Situation verbunden, um daraus Konturen alter „Volkscharaktere“ wie neuer „Menschentypen“ zu gewinnen. Um diese rund 100 Jahre „Berliner Inlandsethnologie“ bis in die Zeit des NS wird sich das Seminar kümmern – an Hand von unterschiedlichen historischen Text- und Bildquellen, mit Blick auf wirkungsvolle Exotisierungs- und Tribalisierungsstrategien „des Urbanen“ und damit in vielfacher Hinsicht auf den Spuren der eigenen (volkskundlichen) Fahcvergangenheit. Und es wird auch nach Kontinuitäten gegenwärtiger Berliner „Menschenbilder“ fragen. |