Kommentar |
Wahrscheinlich verbringen wir den größten Teil unserer Zeit im Wartezustand, ohne dessen gewahr zu sein. Warten ist nicht etwa der Gegensatz zum tätigen Leben. Dessen charakterliche Voraussetzung, die Geduld, ist im Gegensatz zur ziellosen Lethargie eine unabdingbare Komplementärtugend zur Vita activa. Denn dem Warten liegt ein Telos zugrunde – man wartet auf etwas. Zielgerichtetes Handeln ohne das Vermögen, warten zu können, ist nicht denkbar. Das Warten teilt die Zeit in Diesseits und Jenseits, es ist der Ursprung der Phantasie, der Stimmboden von Glaube, Hoffnung, Angst und Verzweiflung. Andererseits kränkt das Ausbleiben des Erwarteten die Überzeugung, die Welt sei als solche zweckhaft und vernünftig und darum unbegrenzt berechenbar. Der individuelle Wartemodus lässt sich unschwer als kollektiver Zustand zwischen Heilserwartung und Depression in ganzen Kulturen, Religionen und Epochen wiederfinden – zumindest erscheint es im Nachhinein so. So überrascht es nicht, dass das Warten eine hohe metaphorische Bedeutung in Krisensituationen der Moderne erlangt hat, man denke nur an literarische Schlüsseltexte derselben, von Franz Kafka oder Samuel Beckett. Ziel der Lehrveranstaltung, die einem Ausstellungsvorhaben gilt, ist eine Kategorisierung von Zuständen, Räumen und Zeichen des Wartens – in der thematischen Vielfalt zwischen Jagd und Schützengraben, Börse und Politik, Wartezimmer und Straßenverkehr. |
Literatur |
Gregor von der Heiden: Wer zu spät kommt, den bestraft der Wartende. Zur Funktion des Wartens in zwischenmenschlicher Verständigung. (=Essener Studien zur Semiotik und Kommunikationsforschung Bd. 3). Aachen 2003 Ruthard Stäblein (Hg.): Geduld. Die Kunst des Wartens. Frankfurt/M. 1996 Heinz Schilling (Hg.): Welche Farbe hat die Zeit. Recherchen zu einer Anthropologie des Wartens. (Schriftenreihe des Instituts für Kulturanthropologie und Europäische Ethnologie der Universität Frankfurt am Main Bd. 69). Frankfurt/M. 2002 Alfred Gell: The Anthropology of Time. Cultural Construction of Temporal Maps and Images. Oxford u.a. 1992 |