Der Wald ist heute oft ein Sehnsuchtsort, aber auch ein Ort, an dem Dinge geschehen, die niemand sehen oder hören soll und will. Außerdem ist er ein Ursprungsort, ein Ort, an dem alles begann, zum Beispiel die Vergesellschaftung. Eng verbunden ist der Wald auch mit der Frage nach dem Ursprung der Gewalt, ebenso wie mit der Frage nach dem Ursprung eines Gewaltmonopols. In ihrem 2020 erschienenen Buch The Force of Nonviolence: An Ethico-Political Bind erinnert Judith Butler an Urszenen des Gesellschaftsvertrags: Bei Thomas Hobbes trifft ein einzelner erwachsener weißer Mann (das autonome, souveräne Subjekt), in einer waldigen Welt im Urzustand auf andere weiße Männer, mit denen es Konflikte gibt, die in Gewalt münden. Um dies zu verhindern, muss ein Vertrag geschlossen werden. Auch Jean-Jacques Rousseau bemüht häufig den Wald, etwa wenn er im Contrat social legitime Gewalt und nicht-legitime Gewalt voneinander unterscheidet: “Qu’un brigand me surprenne au coin d’un bois : non seulement il faut par force donner la bourse, mais quand je pourrais la soustraire suis-je en conscience obligé de la donner ? car enfin le pistolet qu’il tient est aussi une puissance.”
Im Seminar wollen wir danach fragen, wie postkoloniale frankophone Theorie und Literatur mit dem Topos des Waldes arbeiten, wenn sie sich mit dem Thema Gewalt auseinandersetzen. Der Wald ist hier meist kein Buchen- oder Eichenwald, sondern eine brousse, forêt tropicale oder jungle, also ein Tropenwald, der in jüngeren Texten auch von Zerstörung bedroht ist. Wir lesen und diskutieren Texte von Frantz Fanon, Achille Mbembe, Mamood Mamdani, Pierre Nganang, Sony Labou Tansi, V.Y. Mudimbe, Bolya Baenga, Jean Bofane, Kossi Efoui und Leonora Miano, Vorschläge von Ihrer Seite sind sehr willkommen.
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