Kommentar |
Seit 2015 ist die »Claude Lanzmann Shoah Collection« des United States Holocaust Memorial Museum online zugänglich. Die sorgfältig kuratierte Sammlung enthält die Outtakes von Shoah (F 1985, 540 min), d.h. sämtliche für diesen Film gemachten Aufnahmen, die im Werk schließlich keine Verwendung fanden, insgesamt 220 Stunden. Ein solches Archiv ist bisher so einzigartig wie der Film, aus dem es hervorgegangen ist, ein Projekt im buchstäblichen Sinne des Wortes: ein Wurf so weit, dass er vielleicht nie einzuholen sein wird. Shoah, sagte Lanzmann, sei kein historischer Film; er wollte »einen lebendigen Film nur aus der Gegenwart« machen. Erinnerung bedeutet hier vor allem Vergegenwärtigung, nämlich lebendige oder, wenn man so möchte, performative Erinnerung. In diesem Sinne wäre auch der Begriff der Zeugenschaft zu verstehen, mit dem man Lanzmanns Werk zu beschreiben suchte (exemplarisch Shoshana Felman in ihrem einflussreichen Aufsatz »In an Era of Testimony«, 1991). Dem Shoah-Archiv fällt dabei eine doppelte Rolle zu. Es macht nicht nur zahlreiche Zeugnisse sichtbar, die im Film aus jeweils unterschiedlichen Gründen nicht zu sehen sind (einige hat Lanzmann später in anderen Filmen verwendet), sondern gewährt mit dem Material, das unter den Tisch fiel, zugleich Einblick in die Konstruktion – Lanzmann selbst sprach lieber von Komposition – des Films. Denn anders als beim Visual History Archive der von Steven Spielberg gegründeten Shoah Foundation hat man es hier nicht mit einer möglichst vollständigen Dokumentation, sondern – auch – mit einem Kunstwerk zu tun. Wer sich fortan mit dem Film Shoah beschäftigt, befindet sich in der höchst komfortablen, wiewohl gleichermaßen anspruchsvollen Lage, gleichsam die Werkstatt inspizieren zu können, in der er entstanden ist. In der Beschäftigung mit ausgewähltem Material der »Claude Lanzmann Shoah Collection« soll der im Deutschen inzwischen kanonisierte Begriff der Erinnerungskultur gleichsam mit Leben gefüllt werden: was paradox genug erscheinen mag in Anbetracht eines Films, von dem Lanzmann immer wieder betonte, er handle nicht vom Überleben, sondern vom Tod. Erörtert werden, je nach spezifischem Interesse, Fragen nach Archiv und kulturellem Gedächtnis, Zeugenschaft und Autorschaft, Erinnerung und Performativität, »Bilderverbot« und filmischer Darstellung, (historischer) Wahrheit und Erzählung. |