Karl Kraus’ 1908 erschienene Aufsatzsammlung Sittlichkeit und Kriminalität bildet einen frühen, radikalen und wirkmächtigen Einsatz für eine Liberalisierung des Strafrechts und des Sexualstrafrechts. In der Publizisitik situiert, im Rückgriff auf Wissen und Verfahren der Literatur und im Vorgriff auf eine Modernisierung von Recht und Gesellschaft intervenieren Kraus’ Texte für das Recht auf sexuelle Selbstbestimmung: für den Schutz der Privatsphäre, für die Emanzipation von Frauen und Homosexuellen, für das Abtreibungsrecht und eine Entkriminalisierung der Prostitution. Hinzu kommen Themen der ökonomischen Ungleichheit und ihre Stabilisierung und Verschärfung durch das Strafrecht. Neben den Gerichten, der Gerichtspsychiatrie und der Polizei greift Kraus hierfür insbesondere die Sensationsberichterstattung der Presse an. Kraus nutzt die medienhistorische Lage einer – nach heutigen Maßstäben ausufernden – Gerichtsberichterstattung, die von kleinen wie großen Prozessen berichtet, in chronologischer, detaillierter und wortwörtlicher Wiedergabe der Sitzungsprotokolle. Damit geht es ihm auch um die medialen und ästhetischen Inszenierungsweisen einer Gerichtsbarkeit, die ihre Autorität gemeinsam mit der Presse und den von ihr bedienten Schau- und Strafbedürfnissen einer patriarchalen Gesellschaft und Öffentlichkeit bedient. Das SE geht den Texten Kraus’ dafür zunächst entlang der engeren Umständen ihrer historischen Ereignisse nach, um sie von dort aus in ihren weiteren kultur- und wissensgeschichtlichen Kontexten zu erschließen. Semesterbegleitende Seminarleistung: Neben der vorbereitenden Lektüre für jede Sitzung verfasst jed:e Teilnehmer:in für einzelne Sitzungen kurze Lektüreprotokolle, die auf vorab zum Text gestellte Fragen antworten und/oder eigene Fragen an den Text stellen.
Karl Kraus, Schriften Bd. 1. Sittlichkeit und Kriminalität, hg. v. C. Wagenknecht, Frankfurt a. M. 2019.
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