Trotz überlieferungsgeschichtlicher und pragmalinguistischer Revisionen des Rätselbegriffs in Mediävistik und Frühneuzeit-Forschung kommt die Theorie des Rätsels an André Jolles' Bestimmung in seinen 'Einfachen Formen' (1930) kaum vorbei. In der Darstellung suggestiv, methodisch jedoch völlig obskur sieht er im Rätsel eine Prüfungsfrage, deren Lösung über Leben und Tod bzw. über Inklusion oder Exklusion aus einem Personenverbund entscheidet. Zudem schreibt er ihm ein intentionales Objekt in Gestalt eines Dingsymbols zu: die Alraune, die er etymologisch mit der Rune (von ahd. runa – Geheimnis) assoziiert. Wie ein klassischer Rätselsteller gibt er sich und seinen Leserinnen und Lesern am Ende des Kapitels einen Auftrag mit auf den Weg, die "Bedeutung dieses Gegenstandes und seiner weittragenden Beziehungen – auch zur Schrift – im Zusammenhang mit der Geistesbeschäftigung des Rätsels festzustellen" Um Jolles' ungenannte Quellen und Intentionen freizulegen und dadurch zugleich einen wesentlichen praxeologischen Aspekt des Rätsels aufzuschließen, wird das Seminar sich jene Aufgabe zu eigen machen, indem es den kryptischen Wissenszusammenhängen nachforscht, in denen die Alraune (Mandragora, Mandrake) ihre Wurzeln schlägt und geheimnisvolle Wirkungen zeitigt.Dazu werden wir von einer Beobachtung ausgehen: In der epischen Dichtung des Mittelalter tauchen Rätsel häufig in der Kommunikation unter Herrschenden auf. Wenn Könige einander Mitteilungen machen, tun sie das literarisch häufig in Gestalt von Ainoi: von Gesten und Dingen, die wie ein Rebus ihre Botschaft mehrdeutig verschlüsseln und nur dem Wissenden preisgeben. Solche Rätsel zu lösen und neue zu stellen, ist Ausweis der Eignung zum Regieren. Wie werden diesen Zusammenhang zunächst an Beispielen aus dem Äsop-, Alexander- und Apollonius-Roman untersuchen.Wohin von der Ainos-Funktion her gedacht die Spur der zweischenkligen, anthropomorphen Alraune führt, werden wir im Anschluss zu rekonstruieren versuchen. Der experimentelle Teil des Seminars wird über Macchiavellis Komödie 'Mandragorla' (1518?) und seine 'Discorsi sopra la prima Deca di Tito Livio' (1513–1519, publ. 1531) zu weiterem Wissen über die Alraune führen: in Grimmelshausens 'Galgen-Männlin', 1673, in der Buntschriftstellerei des 18. Jhds. bis zur romantischen Rezeption in Grimms 'Deutschen Sagen', Tiecks 'Der Runenberg' oder in Fouquets 'Geschichte vom Galgenmännlein'.In einem dritten Schritt werden wir uns mit Beiträgen zur aktuellen literaturwissenschaftlichen Rätselforschung beschäftigen, um uns schließlich viertens der konstitutiven Beziehung von Rätsel und arkanem Herrschaftswissen zu nähern.
André Jolles: Rätsel, in: ders., Einfache Formen. Legende, Sage, Mythe, Rätsel, Spruch, Kasus, Memorabile, Märchen, Witz, Tübingen 41968, S. 126–149 / Burghart Wachinger: Rätsel, Frage und Allegorie im Mittelalter, in: Werk-Typ – Situation. Studien zu poetologischen Bedingungen in der älteren deutschen Literatur, hrsg. v. Ingeborg Glier, Stuttgart 1969, S. 137–160 / Tomas Tomasek: Das deutsche Rätsel im Mittelalter, Tübingen 1994 / Heike Bismark: Rätselbücher. Entstehung und Entwicklung eines frühneuzeitlichen Buchtyps im deutschsprachigen Raum, Tübingen 2007.
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