Kommentar |
Wie kaum ein anderes Genre ist die literarische Utopie untrennbar mit dem Wissensstand ihrer jeweiligen Gegenwart verknüpft. Ihre Geschichte wird deshalb auch gemeinhin mit den großen Entdeckungen und Erfindungen der modernen Zivilisation synchronisiert, wobei sich die neugewonnenen Kenntnisse zugleich produktiv und hemmend auf die utopische Imaginationskraft auswirkten: Die Kartografierung immer weiterer Teile der Erde nahm der literarischen Utopie im 18. Jahrhundert den unbekannten Raum und eröffnete ihr zugleich die Zukunft als neue Unbekannte. Technologische und bürokratische Entwicklungen beflügelten Machbarkeitsphantasien im 19. und frühen 20. Jahrhundert – und riefen als deren Kehrseite die dystopischen Szenarien des Machtmissbrauchs hervor, die das Genre seinen Optimismus kosteten. Folgt man diesem Narrativ bis heute, ergibt sich ein merkwürdiges Bild: Die (Anti-)Utopien der jüngsten Zeit entwerfen weder entfernte Orte oder Zeiten noch menschliche Fortschritte in Uni- oder Metaversum, sondern verbleiben in der Nähe unserer Gegenwart. Statt wie Elon Musk vom Leben auf dem Mars zu träumen, rechnen sie anthropogene Emissionen, politische Radikalisierung oder die sozialen Folgen der Digitalisierung um wenige Jahre in die Zukunft hoch und formulieren konkrete Handlungsaufträge. Es scheint, als habe das Möglichkeitsgenre seinen Möglichkeitsspielraum freiwillig gegen die Konzentration auf die Gegenwart eingetauscht. Ausgehend von dieser literaturgeschichtlichen Auffälligkeit geht das SE mit einem genealogischen Interesse den wichtigsten Stationen in der Entwicklung des Möglichkeitsgenres in der Moderne nach. Neben ‚Klassikern‘ des Genres wie Louis-Sébastien Merciers „Das Jahr 2440“ oder Ernst Jüngers „Heliopolis“ widmen wir uns in gemeinsamen Lektüren auch vergessenen Utopien und Texten der allerneuesten Gegenwartsliteratur. Studienbegleitende Leistung: Beispielanalyse |