Kommentar |
In der aktuellen öffentlichen Diskussion wie auch in der zeitgenössischen Philosophie spielen standpunktepistemologische Argumente eine wichtige Rolle. Während es in der öffentlichen Diskussion jedoch häufig zu polemischen Verkürzungen kommt („es geht nur noch darum, wie sich jemand fühlt, nicht mehr darum, wie es in Wirklichkeit ist“), gibt es in der zeitgenössischen Philosophie eine äußerst differenzierte Debatte zur Standpunktepistemologie.
Die zentrale Behauptung der Standpunktepistemologie lautet, dass Wissen von sozialen Positionen abhängig ist. Das Wissen, um das es der Standpunktepistemologie geht, ist allerdings nicht der Art, dass „2+2=4“ oder „die Humboldt-Universität liegt im Bezirk Mitte“; einfaches propositionales Wissen dieser Art scheint in keinem besonderen Zusammenhang mit einer bestimmten sozialen Position zu stehen. Standpunktepistemologischen Ansätzen geht es vielmehr um Wissen über die soziale Welt, genauer um Wissen über hierarchische und unterdrückende soziale Strukturen. Solches Wissen kann – so die Behauptung – nur von bestimmten sozialen Positionen aus generiert werden. Menschen, die als Frauen gelesen werden, sind zum Beispiel anders sozial positioniert als Männer und machen folglich auch andere Erfahrungen. Die Standpunktepistemologie geht davon aus, dass diese Erfahrungen die Grundlage für Einsichten über die soziale Welt bilden, die von einem männlichen Standpunkt aus nicht möglich sind. Diese Behauptung wirft jedoch eine Reihe wichtiger Fragen auf, etwa: Ist ein Standpunkt automatisch gegeben? Falls nein, wie kann ein Standpunkt erreicht werden? Kann die Standpunktepistemologie der Vielfalt von Erfahrungen ähnlich sozial positionierter Menschen Rechnung tragen? Können Menschen von anderen sozialen Positionen aus Zugang zu jenem Wissen bekommen oder bleibt das Wissen auf jene beschränkt, die eine bestimmte soziale Position innehaben?
In diesem Hauptseminar werden wir zunächst einige klassische Positionen (u.a. Lukács, Du Bois) kennenlernen, bevor wir uns der zeitgenössischen Debatte zuwenden, um diese und weitere Fragen zu diskutieren. Das Seminar setzt keine spezifischen Vorkenntnisse voraus, aber die Bereitschaft, sich intensiv mit anspruchsvollen Texten auseinanderzusetzen und sich konstruktiv an der Seminardiskussion zu beteiligen. Voraussichtlich wird zu Beginn des Semesters eine kleine unbenotete Leistung zu erbringen sein; weitere Informationen dazu erhalten Sie rechtzeitig über Moodle.
Wer vor dem Semester zur Einstimmung schon mal etwas lesen möchte, kann einen Blick auf den Artikel „Feminist Epistemology and Philosophy of Science“ von Elizabeth Anderson in der Stanford Encyclopedia of Philosophy von 2020 werfen: https://plato.stanford.edu/archives/spr2020/entries/feminism-epistemology/ (insb. Abschnitte 1-2) |