Die durch die russischen Formalisten Anfang des 20. Jh. eingeführte Dichotomie der Begriffe ‚Fabel‘ vs. ‚Sujet‘ hat die Entwicklung der modernen Erzähltheorie maßgeblich beeinflusst. In der klassischen Auslegung entspricht der ‚Fabel‘ der rohe und unbearbeitete Stoff oder Material für eine fiktionale Erzählung, während man unter dem ‚Sujet‘ die komplexe und mehrschichtige narrative Struktur eines fiktionalen Erzählwerks in seiner endgültigen künstlerischen Ordnung versteht. Trotz dieser scheinbar einfachen Unterscheidung bleibt die Genealogie dieses Begriffspaars komplex und multidimensional: Einzelne Autoren (wie Jurij Tynjanov, Viktor Šklovskij oder Boris Ėichenbaum), die sich des Begriffspaares bedient haben, projizierten darauf unterschiedliche Bedeutungen und setzten sich mit unterschiedlichen narrativen Phänomenen und Sujet-Fabel-Beziehungen auseinander.
Das Seminar bietet eine Vertiefung der im Grundkurs besprochenen Begriffe aus der Narratologie und liefert Einblicke in die ursprünglichen Fragen der Formalisten, sowie in die spätere Systematisierung ihrer Thesen durch den sowjetischen Semiotiker und Strukturalisten Jurij Lotman. Als Grundlage für Beispielanalysen wird eine Auswahl an Meisterwerken der (ost)europäischen narrativen Kunst (in Literatur und Film) dienen, wie z.B. Eugene Onegin von Alexander Puškin (1830) oder Die Handschrift von Saragossa (1964) von Wojciech Has.
Einführende Literatur zum Thema:
Lotman, Jurij M.: “Das Problem des Sujets”, in: ders.: Struktur literarischer Texte. München 1989, S. 329-340; Wolf Schmid: „Fabel und Sujet“, in: (ders.): Slavische Erzähltheorie. Russische und tschechische Ansätze. De Gruyter 2010; Wolf Schmid (Hg.): Russische Proto-Narratologie. Texte in kommentierten Übersetzungen. Berlin 2009; Brooks, Peter: Reading for the Plot. Design and Intention in Narrative. New York 1984. |