Kommentar |
Nichts scheint aus heutiger Perspektive ferner, als das Vorhaben der Reform der Sowjetunion, das Michail Gorbačev nach seinem Amtsantritt 1985 angestoßen hat, und welches 1991 mit der Auflösung der Sowjetunion und der Absetzung ihres ersten und letzten Präsidenten ein Ende nahm. Aus der zeitgenössischen Perspektive von damals wurden die Entwicklungen der späten 80er Jahre in und außerhalb der Sowjetunion zunächst als Aufbruch erlebt, später wurde Gorbačev v.a. aus der Perspektive der Führung des neuen Russland verurteilt. Das Seminar wird die damaligen spannungsgeladenen Entwicklungen in der Literatur, in der Literaturpolitik und im Film in Augenschein nehmen: neue ästhetischen Positionierungen, Neuaufstellung der Literatur als gesellschaftspolitisches Instrument, nachholende Kanonisierung der Klassik der Moderne, nationale Tendenzen, internationaler Einsatz für Ökologie und Frieden, Aufdeckung der Verbrechen des Stalinismus, Neupositionierung der Intelligencija und Probleme der Überwindung der Grenzen zwischen offizieller und inoffizieller Kultur/Literatur. Neben der Sichtung und Analyse des künstlerischen Schaffens dieser Jahre, seiner ästhetischen Tendenzen (von neuen Realismen über Dokumentarismen bis zum Konzeptualismus) und der damit verbundenen neuen Positionierungen von Autorschaft, werden wir uns auch mit den Entwicklungen in der Literatur- und Kulturtheorie dieser Jahre (Lotman, Groys) beschäftigen. Außerdem werden wir die Frage stellen, was die lawinenartige Publikation von bislang durch die Zensur im Verborgenen gehaltenen Werken der vergangenen Jahrzehnte für die kulturelle Gegenwart dieser Jahre bedeutete. Dabei werden wir die zeitnah entstandene wissenschaftliche Sekundärliteratur der frühen 1990er Jahre im Vergleich mit ganz aktuellen Reflexionen und Analysen dieser Epoche in der Publizistik und im Film (Gorbačev-Porträts von Vitalij Manskij und Werner Herzog; "Mr. Landsbergis" von Sergej Loznitsa) in den Blick nehmen und fragen, ob und was die "Perestrojka" mit den Katastrophen heutigen Zeit zu tun hat und welche Einsichten wir für die Analyse des Kriegssituation unserer unmittelbaren Gegenwart daraus gewinnen können.
|