Kommentar |
Die Motetten Johann Sebastian Bachs gelten als Höhepunkte der Gattungsgeschichte und gehören heute weltweit zum Kernrepertoire der Kammerchöre. Obwohl sie – anders als die Kantaten – nach Bachs Tod von den Thomanern ungebrochen tradiert wurden, sind sie in vielfacher Hinsicht rätselhaft geblieben. Vor allem die Anlässe ihrer Entstehung lagen bislang weitgehend im Dunkeln. Für die meisten der Motetten nahm man an, dass es sich um Auftragsmusiken zu bürgerlichen Traueranlässen in Leipzig handle. Grundlage dieser These waren Textparallelen zwischen einzelnen Motetten („Jesu, meine Freude“ und „Fürchte dich nicht“) und Trauerpredigttexten, wobei allerdings durch neu aufgefundene archivalische Quellen Zweifel wuchsen. Unklar war die Bestimmung der Motette „Singet dem Herrn“, bei der die freudigen Ecksätze in schroffem Gegensatz zum mittleren Trauersatz stehen. Bei der Motette „Ich lasse dich nicht“ war darüber hinaus seit der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts die Autorschaft Bachs umstritten.
Wir werden die Motetten anhand der Quellen untersuchen, sie musikalisch und textlich analysieren und historisch einordnen. Dabei nehmen wir unseren Ausgang bei neueren Forschungen zur Motette „Singet dem Herrn“, die Einblicke in Bachs Techniken zur Bezugnahme auf Anlässe eröffnen, auf die hin wir auch die anderen Motetten prüfen werden. Sodann werden wir den Traditionen, in denen Bach sich bewegte, nachspüren, etwa im Altbachischen Archiv, und weiter nach Neuerungen fragen, die seine Motetten für die Gattung bedeuteten, zum Beispiel im Verhältnis von Musik und Text, durch den musikalischen Umgang mit der Doppelchörigkeit und damit mit Raum und räumlichem Geschehen, durch metamusikalische Strukturen u.v.m. Auch Fragen der Aufführungspraxis werden wir diskutieren. Zugleich werden wir die bisherige Forschung kritisch prüfen und dabei auch methodische Probleme diskutieren, die sich in ihr offenbaren und die über die Motetten hinaus von allgemeiner Bedeutung sind. In dem Zusammenhang werden wir etwa den Begriff der „musikhistorischen Tatsache“ (Dahlhaus), Möglichkeiten und Gefahren indizieller Schlüsse und Fragen historischer Gewissheit erörtern.
|
Literatur |
Konrad Ameln, Kritischer Bericht zur Neuen Ausgabe sämtlicher Werke, hrsg. vom Johann-Sebastian-Bach-Institut Göttingen und vom Bach-Archiv Leipzig, Serie III, Bd. 1: Motetten, Kassel und Leipzig: Bärenreiter / Deutscher Verlag für Musik, 1967 Karl-Georg Faber, Theorie der Geschichtswissenschaft, 3., erweiterte Auflage, München: Beck, 1974
Carl Dahlhaus, Grundlagen der Musikgeschichte, Köln: Musikverlag Hans Gerig, 1977
Daniel R. Melamed, J. S. Bach and the German Motet, Cambridge/Mass.: Cambridge University Press, 1995
Klaus Hofmann, Johann Sebastian Bach. Die Motetten, 2. Auflage, Kassel u. a.: Bärenreiter, 2006 Reinmar Emans und Sven Hiemke (Hrsg.), Bachs Passionen, Oratorien und Motetten, Laaber: Laaber-Verlag, 2009 (Das Bach-Handbuch, Bd. 3)
Meinolf Brüser, „‚Gott nimm dich ferner unser an‘. Zum Verständnis von Bachs Motette Singet dem Herrn (BWV 225)“, in: Archiv für Musikwissenschaft 76 (2019), H. 1, S. 2–27
Meinolf Brüser, Wenn Bach trauert. Die Motetten Johann Sebastian Bachs neu verstanden, Kassel u. a.: Bärenreiter, erscheint im Sommer 2022
|