Kommentar |
Die Corona-Pandemie hat weitreichende soziale Folgen in nahezu allen Lebensbereichen, vom Gesundheitssystem über das Erwerbs- und Wirtschaftssystem bis hin zu Familien, Geschlechterverhältnissen und den Einzelnen. Bisher erhielten allerdings die gesundheitlichen Auswirkungen und Langzeitfolgen einer Infektion mit SARS-CoV-2 für die Betroffenen erstaunlich wenig Aufmerksamkeit. Etwa jede zehnte mit Corona infizierte Person leidet unter Post- oder Long Covid-Symptomen (Stellungnahme 9 des Corona-ExpertInnenrates). Auch „die Auswirkungen dieser potentiell langfristigen Komplikationen auf die Gesellschaft und das Sozialversicherungs- und Gesundheitssystem sind angesichts der hohen Infektionszahlen von hoher gesamtgesellschaftlicher Bedeutung“ (ebd.)
In dem zweisemestrigen Projektseminar gehen wir von der Frage aus, wie Menschen mit Post- und Long-Covid mit ihrer chronischen Erkrankung umgehen und welche Folgen die Erkrankung im gesamten Lebenszusammenhang hat (Achtung Triggerwarnung: es handelt sich um Themen aus dem Bereich Prekarisierung und chronische Erkrankungen). Besonderes Augenmerk richten wir darauf, wie die Menschen im Gesundheitssystem, von Arbeitgebern und Sozialversicherungsträgern behandelt werden, welche Hilfe sie (nicht) erhalten und welche Hürden und Anerkennungsdefizite bestehen und welche Geschlechterungleichheiten sich zeigen. Wir fragen z.B.: Wie gehen Ärzt:innen und Reha-Einrichtungen mit der Erkrankung um? Wird die Erkrankung, wenn sie in Gesundheitsberufen entstanden ist, als Arbeitsunfall oder als Berufskrankheit anerkannt? Die Voraussetzungen dafür sind sehr hoch, viele Fälle werden nicht anerkannt (etwa Nienhaus/Schneider 2022). Auch die Beantragung einer Erwerbsminderungsrente über die Rentenversicherung ist langwierig und schwierig. Wie geht es Erkrankten in solchen Verfahren? Auf welche Hürden stoßen sie in der Arbeitsstätte, im medizinischen und sozialversicherungsrechtlichen Begutachtungsprozess? Gibt es Unterschiede zwischen den Geschlechtern? Sog. typische weibliche Berufe im Gesundheitswesen haben ein erhöhtes Corona-Infektionsrisiko, zugleich werden oft die Symptome als „nur psychisch“ abgetan oder vollends als „eingebildet“, insbesondere bei weiblichen Erkrankten, aber auch bei anderen.
Wir beschäftigen uns mit diesen Fragen aus einer subjektorientierten und prekarisierungstheoretischen Perspektive auf Geschlecht, Gesundheit, Ungleichheit und Prekarisierung im Lebenszusammenhang (Wimbauer/Motakef 2020). Nach einer Einarbeitung in diese theoretischen Grundlagen und in gesundheitspolitische und sozialversicherungsrechtliche Fragen des Themas im WS 22/23 erarbeiten die Teilnehmenden (möglichst in Kleingruppen) eigene Fragestellungen im Kontext des Themas und führen dazu Ende des ersten oder anfangs des zweiten Teils selbstständig Expert:inneninterviews (zB mit Sozialberatungsstellen, Vertreter:innen der Renten- und Unfallversicherung, Betriebsrät:innen, Betriebsärzt:innen, Gesundheitspersonal, Reha-Einrichtungen u.a.m.). Im SoSe 23 werden die Interviews ausgewertet und gemeinsam im Fallvergleich betrachtet sowie gesundheits- und geschlechterpolitischer Handlungsbedarf herausgearbeitet. Wenn möglich, sollen die Ergebnisse in geeigneter Form öffentlich gemacht werden.
Das Projektseminar ist an ein größeres Forschungsprojekt angebunden. Es erfordert unabdingbar inhaltliches Interesse an sowie Kenntnisse bzgl. Geschlechterfragen und qualitativen Methoden, hohes und zuverlässiges Engagement und die eigenständige Durchführung eines Forschungsprojektes. Es wird, je nach Pandemielage, in Präsenz und digital (zoom) durchgeführt.
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