Wer professionell übersetzen möchte, träumt vielleicht davon, den nächsten Kurzgeschichtenband von Alice Munro zu übersetzen. Oder vielleicht doch lieber den finale Band der Songs of Ice and Fire-Serie von G.R.R. Martin – also einen Text der Genreliteratur, nämlich der Fantasy. Wahrscheinlich ahnt die angehende Übersetzerin nicht, dass sie beim Übersetzen von Fantasy mit ganz anderen Erwartungen konfrontiert ist als die Übersetzerin einer high brow-Schriftstellerin wie Munro.
In diesem Seminar geht es genau um diese Erwartungen beim Übersetzen von Genreliteratur. Denn Genreliteratur wird oft anders übersetzt als die sog. „ernste“ Literatur: Man nimmt es nicht so genau mit der Werktreue, ein Genrebuch darf gerne auch mal gekürzt werden, sprachliche und inhaltliche Nuancen werden übersehen und gehen verloren. Im deutschsprachigen Buchmarkt haben sich für verschiedene Genres bestimmte Sprachregister etabliert, die die Übersetzungen prägen, egal, wie das Original eigentlich klingt. Bei der Fantasy ist das ein „Märchenton“, bei der Science-Fiction und im Krimi ein „rotzig-ironischer“ Erzählton. Die Problematik dieses „Einheitstons“ wird im Seminar an Beispieltexten diskutiert.
Das Seminar beginnt mit dem Versuch einer theoretischen Unterscheidung von populären und literarischen Texten, die Problematik dieser Unterscheidung wird thematisiert, sprachliche Unterschiede zwischen Genreliteratur und ernster Literatur herausgearbeitet. Dabei wird der Begriff des „exzellenten Genres“ eingeführt und eine Sichtweise, die ernste Literatur als ein Genre wie jedes andere betrachtet.
Am Beispiel der beiden deutschen Herr der Ringe-Übersetzungen (Carroux und Krege) und ihrer kritischen Rezeption bei Fans und Tolkienexpertinnen werden die Begleitumstände von Genre-Übersetzungsprojekten allgemein vorgestellt, aber auch die aktuellen und besonderen Lesererwartungen bei internationalen Bestsellern wie dem Herrn der Ringe.
Einzelne Seminarsitzungen sind jeweils einem Genre und bestimmten Übersetzungsproblematiken gewidmet: Umgangs- und Jugendsprache übersetzen, erfundene Worte in die Zielsprache eindeutschen oder nicht?, eine Sprache für Sexualität finden, Wie mit (zu viel) Kitsch und Pathos umgehen?, Gender und „Race“ übersetzen, welche Sprache eignet sich für einen historischen Roman? u.a.
Das Seminar bietet eine Mischung aus Theorie und Praxis: Einerseits textkritische Lektüren von veröffentlichten Übersetzungen, andererseits üben die Studierenden selbst das Übersetzen von kurzen Textpassagen aus Genretexten. Dabei wird in spezifische, sprachlich-grammatische Probleme bei der Übersetzung aus dem Englischen (Wortstellung, Gerund, Present Perfect etc.) eingeführt.
Geplant ist, dass die Studierenden gemeinsam ein anspruchsvolles Fantasybuch (zumindest Teile davon) aus dem Englischen ins Deutsche übersetzen, und zwar C. M. Waggoner, Unnatural Magic (Ace Books, 2019). |