Kurzkommentar |
Im Seminar werden Texte der skandinavischen Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart hinsichtlich ihrer genealogischen Poetologien und gattungsbezogenen Denkformen untersucht und diskutiert. Dabei soll es dezidiert nicht darum gehen, die Genealogie in der skandinavischen Literatur als literaturhistorisches Kontinuum zu lesen, sondern die literarischen Grenzen zwischen Gegenwart und Mittelalter, Früher Neuzeit und Moderne anhand der Poetologie zu hinterfragen und sich bei der Beschäftigung mit diesen Texten bewusst zu werden, dass die Systematiken, die uns Literaturgeschichten durch ihre Fixiertheit auf Gattungen als absolute Größen ausweisen, nicht zwingend textinhärent sind. |
Kommentar |
Genealogien, so zeigt sich in der skandinavischen Literatur vom Mittelalter bis in die Gegenwart, erweisen sich als ausgesprochen produktiv für das Erzählen: Seien es die altnordisch-isländische Sagas, in welchen Genealogien unter anderem dazu verwendet werden, um die Gegenwart über die Abfolge der Ahnenlinie zu legitimieren und zu erklären, oder sei es in Gaute Heivolls „Før jeg brenner ned“, in dem sich der Text aus der Verflechtung verschiedener Genealogien heraus zu schreiben scheint. Genealogien wirken vordergründig zwar als Regulativ zwischen Konstanz und Variation, doch ist den als systematische Setzungen fungierenden Ursprungserzählungen und Schöpfungsberichten, die ihnen vorausgehen, auch eine Tabuisierung der Herkunftsfrage inhärent, was sich in der „Gylfaginning“ anhand mythologischer oder in Strindbergs „Fadren“ und Ibsens „Gengangere“ an naturwissenschaftlichen Gesichtspunkten diskutieren lässt. In ihrer Genese hin zur Gattung zeichnet sich die Genealogie somit nicht nur durch eine retrospektive Betrachtungsweise aus, sondern verweist gleichsam auf die Gegenwart und die Zukunft. Genealogien in und von literarischen Texten bilden dabei Sequenzen und Netzwerke, tragen Diskurse weiter und stecken sich gegenseitig mit Ideen an, haben eschatologisch oder hermeneutisch gelesen eine auf die Zukunft gerichtete Funktion, ohne dass sich das Erzählen dabei linear entwickeln muss. Gattungen evozieren hingegen eine Endgültigkeit in der Systematik, bei der aus der Analyse genealogischer Einzelbedingungen eine als Familienähnlichkeit definierbare, vermeintliche Gesamtheit abgeleitet wird, die als Gattungsdefinition gesetzt wird. Gattungen sind dabei nie aus sich selbst heraus definierte Größen, die im Sinne einer Autopoiesis wirksam wären, sondern immer analytische Kategorien, die nicht aus den Narrativen selbst generiert werden. |