Kommentar |
In seinem programmatischen Werk Trauer und Melancholie (1917) definierte Sigmund Freud die Melancholie als eine Gegen-Form zur Trauerarbeit. Der Melancholiker könne sich von dem verloren geglaubten Objekt nicht trennen, weil er dieses verinnerlicht und somit an den Prozessen der Trauerarbeit nicht teilnehmen kann. Die Melancholie führt laut Freud zu der Störung der Identifikationsprozesse des Selbst und kann die Wahrnehmung der Realität stark beeinträchtigen. Paul Gilroy führte in seinem Buch „After Empire. Melancholia or Convivial Cultures?“ (2004) den Terminus „postkoloniale Melancholie“ ein, um die Ressentiments und Schwermütigkeit in der britischen Nachkriegskultur zu beschreiben, die er auf den Zerfall großimperialistischer Träume und die nicht abgeschlossene Trauerarbeit über die verlorenen Kolonialreiche zurückführte. Das Seminar widmet sich der Frage nach der Produktivität des Konzepts des Melancholischen als Analysekategorie für zeitgenössische poetische Texte, die u.a. im postsowjetischen Raum entstanden sind und die mit Prozessen der Trauer, Vergangenheitsbewältigung und Verarbeitung von kollektiven und historischen Traumata zu tun haben. Aufgrund des russländischen Großangriffs vom 24. Februar auf dem gesamten Territorium der Ukraine und des seitdem andauernden Krieges wurde der ursprüngliche Fokus des Seminars, der auf den Dimensionen der 'weiblichen' Melancholie und ihrer theoretischen und philosophischen Darstellung in den Werken feministischer Autor*innen liegen sollte, auf diese postkoloniale Problematik verschoben. Die Studierenden sind nichtsdestotrotz dazu eingeladen, eigene Anwendungsbereiche für Theorien und Konzepte der Melancholie zu finden und im Rahmen des Seminars eigene Projekte zu entwickeln. Das Seminar ist sprachenübergreifend angeboten, Kenntnisse der slavischen Sprachen sind nicht notwendig für die Teilnahme. Bei Bedarf kann die Diskussion auch in Englisch geführt werden.
Empfohlene Literatur zur Vorbereitung:
Földényi, László F. (2019): Lob der Melancholie. Rätselhafte Botschaften. Berlin; Wild, Christina/Middeke, Martin (2011): The Literature of Melancholia. Early Modern to Postmodern. London; Gilroy, Paul (2004): After Empire. Melancholia or Convivial Cultures? London 2004; Lepenies, Wolf (1998): Melancholie und Gesellschaft. Das Ende der Utopie und die Wiederkehr der Melancholie. Frankfurt am Main; Heidbrink, Ludger (1994): Melancholie und Moderne. Zur Kritik der historischen Verzweiflung. München; Willem van Reijen (1992). Allegorie und Melancholie, Frankfurt am Main; Lambrecht, Roland (1994): Melancholie: vom Leiden an der Welt und den Schmerzen der Reflexion. |