Literatur und Naturwissenschaft (la science) – sie wachen als allegorische Frauenköpfe über dem Eingang des Collège de France in Paris, dessen keineswegs bescheidenes Motto lautet: „omnia docet“ - alles wird hier gelehrt, das ganze Wissen. Das Wissen der Literatur ist in erster Linie ein sprachliches und geschichtliches, das Wissen der Naturwissenschaften ein messendes und mathematisches. Der Philosoph Wilhelm Dilthey hat dies um 1900 auf die Formel „Erklären vs. Verstehen“ gebracht. Allerdings berücksichtigt diese systematische Unterscheidung nicht die Formen des Austauschs und der Konkurrenz zwischen beiden Wissenstypen. So gewann die Literatur um 1800 als ‚Zeitkunst’ (Lessing, Hegel) ihr spezifisches Wissen aus einer entschieden antimechanistischen Position, die in starkem Maße wissenschaftskritische Züge aufwies. Zugleich trat sie in Verbindung mit neuen Wissenschaften (Chemie, Biologie, Paläontologie, Geologie), die die Natur als lebendig und wandelbar beschrieben. Die unumkehrbare Zeit des Organismus, die eine Zeit des Werdens und des Verfalls ist, wird hier gegen die zeitlose Zeit der Mechanik (die göttlich-ewigen Gesetze der Natur) in Stellung gebracht. Die Vorlesung wird diese Ausgangskonstellation anhand von ausgewählten Textbeispielen (u. a. Goethe, Kleist, E.T.A. Hoffmann, Mary Shelley) nachzeichnen, um dann ihren Transformationen im 20. und 21. Jahrhundert (u.a. bei Franz Kafka, Gottfried Benn, Max Frisch, Ian McEwan, Daniela Danz, Emma Braslavsky) zu folgen. Dabei wird sich zeigen, dass die Konkurrenz von literarischem und naturwissenschaftlichem Wissen einer Lage weicht, in der menschliche Existenz und Naturerkenntnis als untrennbar miteinander verbunden erscheinen. In Kybernetik und Künstlicher Intelligenz rücken Menschen und Maschinen zudem in eine neue Nachbarschaft, die auch das literarische Schreiben tiefgreifend verändert.
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