Kommentar |
Lange vor filmischen Verarbeitungen wie One flew over the cuckoo’s nest (1975) oder Shutter Island (2003) sind ‚Irrenanstalten‘ (im Französischen: asiles d’aliénés) und psychiatrische Kliniken zu Faszinationsorten geworden. Um der historischen Entwicklung der Narrative über diese ambivalenten Orte der Heilung, Einsperrung und Disziplinierung nachzugehen, lesen wir im Seminar gemeinsam fiktionale und autofiktionale Texte mit Anstalts- oder Psychiatriethematik von Guy de Maupassant (Le docteur Héraclius Gloss, verfasst um 1875, posthum veröffentlicht 1921) bis Léon Schwarz-Abrys (Gentil chapon touche du bois, 1951).
Mit der Entdeckung der sogenannten écrits des fous durch die Surrealisten begannen ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts allmählich auch die Schriften einzelner Psychiatrie-Patient:innen an die Öffentlichkeit zu dringen. Zum Abschluss lesen wir deshalb ausgewählte Texte zweier Autor:innen aus der Sammlung des französischen Malers Jean Dubuffet, der ab den 1940er Jahren Malereien, Zeichnungen, Schriften und andere Erzeugnisse von Psychiatrie-Patient:innen und anderen gesellschaftlichen Außenseiter:innen ausfindig machte und zum Ausdruck besonders ‚roher‘, authentischer Kreativität erklärte. Dabei wird auch das Spannungsverhältnis zwischen aufwertender Ästhetisierung und Exotisierung zu diskutieren sein, in dem sich das Interesse der Avantgarde-Bewegungen des 20. Jahrhunderts an Schriften aus der Psychiatrie bewegt.
Zur Einführung in die französische Psychiatriegeschichte sei Ihnen der zweiteilige Dokumentarfilm Histoires autour de la folie (1993) von Paule Muxel und Bertrand de Solliers ans Herz gelegt, der auf Youtube frei zugänglich ist (hier und hier). Auch die oben genannten Spielfilme können, trotz oder gerade wegen der dort vorgenommenen Stereotypisierungen, zur Einstimmung dienen. |