Kommentar |
Derzeit verschwimmen die Grenzen des Sozialen: Biolog*innen und Ethnolog*innen attestieren Pflanzen und Tieren Kommunikations-, Reflexions- und Entscheidungskompetenzen, die bislang dem Menschen vorbehalten waren. Technische Entwicklungen lassen künstliche Intelligenz auf (über-)menschlichem Niveau und damit die Kommunikation von Menschen mit diesen nicht-menschlichen Akteuren immer realistischer erscheinen, und die zunehmende Interaktion mit Robotern provoziert die Frage, wer warum als sozialer Akteur gelten kann. Vor diesem Hintergrund erscheint die Moderne, in der ausschließlich lebende Menschen als soziale Akteure gelten (und nicht etwa auch göttliche Wesen und Dämonen, Pflanzen, Tiere und Bildwerke), zunehmend als Sonderfall, nicht als der Normalfall. Entsprechend darf dieser Sonderfall weder für unsere eigene Gegenwart noch für alle früheren Epochen vorausgesetzt werden. Soziolog*innen fordern daher derzeit, das Problem der Grenzen des Sozialen auf neue Weise zu historisieren. So legitim uns diese Forderung erscheint, sie ist bislang kaum empirisch hinterlegt.
Ziel des Seminars ist es, im interdisziplinären Dialog zwischen Bildgeschichte und Geschichte die Vielfalt sozialer Beziehungen zwischen Menschen und Nicht-Menschen im Mittelalter zu entfalten: In der Vormoderne kommunizierten Menschen mit Pflanzen und Tieren, mit Werkzeugen und Bildwerken, mit Geistern und Göttern. Sie machten sie zu Adressaten und damit zu ihrem sozialen Gegenüber, zu Akteuren. Man führte Prozesse gegen Tiere und Gegenstände, sprach mit Geistern und Wiedergängern, mit Hexen, Gott und dem Teufel. Es wurde diskutiert, ob Pflanzen eine Seele besitzen und Werkzeugen und Bildwerken schrieb man Kommunikationsfähigkeiten zu. Umgekehrt stellte sich im Hinblick auf Juden und Muslime, indigene Bevölkerungen und Sklaven, Bauern und Diener immer wieder die Frage, inwieweit Kommunikation mit ihnen, und nicht nur über sie, möglich sei.
Gemeinsam wollen wir untersuchen, wie unter jeweils welchen historisch spezifischen Bedingungen mit Nicht-Menschen kommuniziert wurde. Damit schließen wir an Überlegungen an, wie sie derzeit auch im Rahmen der human-animal studies oder des material turn diskutiert werden. Doch fokussieren wir nicht auf Beziehungen zwischen Menschen und einer Gattung von Nicht-Menschen, sondern interessieren uns für die Pluralität der Kommunikationen zwischen menschlichen und nicht-menschlichen Akteuren sowie für deren Gemeinsamkeiten und Unterschiede. Auf diese Weise wollen wir das Soziale und seine Grenzen neu vermessen. |
Literatur |
The Agency of Things in Medieval and Early Modern Art. Materials, Power and Manipulation, hrsg. v. Grażyna Jurkowlaniec, Ika Matyjaszkiewicz u. Zuzanna Sarnecka, New York 2018.
Getting the Sense(s) of Small Things. Sinn und Sinnlichkeit kleiner Dinge, hrsg. v. Karen Dempsey u. Jitske Jasperse (Das Mittelalter. Perspektiven mediävistischer Forschung 25,2), Berlin/Boston 2020.
Handbook of Historical Animal Studies, hrsg. v. Mieke Roscher, André Krebber u. Brett Mizelle, Berlin/Boston 2021.
Lindemann, Gesa, Das Soziale von seinen Grenzen her denken, Weilerswist 2009.
Muhle, Florian, Sozialität von und mit Robotern? Drei soziologische Antworten und eine kommunikationstheoretische Alternative, in: Zeitschrift für Soziologie 47, 2018, S. 147-163.
Roscher, Mieke, Human-Animal Studies, Version: 1.0, in Docupedia-Zeitgeschichte, 25.01.2012, http://docupedia.de/zg/Human-Animal_Studies [Zugriff am 25.11.2021].
Siebenhüner, Kim, Things that Matter. Zur Geschichte der materiellen Kultur in der Frühneuzeitforschung, in: Zeitschrift für historische Forschung 42, 2015, S. 373-410. |