Kommentar |
Gabriela Mistral (1899–1957) war in vielerlei Hinsicht eine Autorin avant la lettre. Mit ihren „Gedichten für Kinder“ wurde sie im chilenischen Literatursystem als zentrale Autorin kanonisiert, da ihre Texte Pflichtlektüre in den Schulen darstellten. Das Bildungssystem konstruierte und etablierte ein Bild von ihr als „Mutter der chilenischen Kinder“, da ihre Gedichte auswendig gelernt und einige ihrer Reigen von Kindern in öffentlichen Schulen getanzt wurden. Ihr lyrisches Œuvre ist jedoch vielschichtiger: Es weist auch erotische, ökologische bzw. indigenistische Schwerpunkte auf, um nur einige zu nennen. Ein zentrales Ereignis in ihrer Biografie ist ihre weltliterarische Anerkennung, denn sie war die erste Autorin und Vertreterin Hispano- und Lateinamerikas, die 1945 mit dem Literaturnobelpreis ausgezeichnet wurde, was eine weltweite Positionierung und Zirkulation ihres Werks bedeutete. Andererseits traf 2007 ihr Archiv (Nachlass) aus den Vereinigten Staaten in Chile ein, aus dem die Korrespondenz mit ihrer Sekretärin Doris Dana herausgegeben wurde, deren Briefe dazu beitrugen, die Figur und das Werk der Literaturnobelpreisträgerin komplexer zu machen.
In der vorliegenden Lehrveranstaltung wird die Figur Gabriela Mistrals im chilenischen und Welt-Literatursystem kontextualisiert, es werden ihr Gedichtband Ternura (1924), die zur Verleihung des Literaturnobelpreis führenden Umstände und der Briefwechsel Niña errante (2009) untersucht. |