Kommentar |
Die deutsche Rechtswissenschaft hat sich lange sehr schwer getan, ihre eigene Rolle in der Zeit zwischen 1933 und 1945 zu reflektieren. Die in Gerichten, Verwaltungen, Ämtern und juristischen Fakultäten zu beobachtenden personellen Kontinuitäten verzögerten die notwendige "Aufarbeitung" oder "Vergangenheitsbewältigung" teils um Jahrzehnte. Während einerseits die absolute Ablehnung des Nationalsozialismus zum unverhandelbaren Grundkonsens deutscher Rechtswissenschaft und Rechtsdiskurse wurde, begannen juristische Professionen und Institutionen erst in diesem Jahrhundert, sich ernsthaft ihrer Vergangenheit im Nationalsozialismus zu stellen.
Das große Schweigen hinter dem Bekenntnis gegen den Nationalsozialismus führte zu problematischen Zugriffen auf Phänomene des Antisemitismus und Rassismus, für die es keine Stunde Null in Deutschland gab. In den 1950er Jahren waren aktive Holocaust-Leugner in Regierungsverantwortung und eine Welle "antisemitischer Vorfälle" erschütterte die junge Bundesrepublik, auf die am Ende mit der Einführung des Straftatbestands der Volksverhetzung reagiert wurde, der wenig wirksam blieb. Der geringe Wirkungsgrad staatlicher Sicherheitskräfte im NSU-Komplex und bei Verhinderung und Aufklärung rechtsextremistischer Anschläge wirft viele Fragen auf.
Bis heute zeigen sich in Rechtswissenschaft wie rechtlichen Diskursen erhebliche Schwierigkeiten, Antisemitismus und rassistische Diskriminierung zutreffend rechtlich zu erfassen. Hintergrund dieser konzeptionellen Schwierigkeiten scheint zum einen die Vorstellung zu sein, dass Antisemitismus oder Rassismus einen Bezug zum Nationalsozialismus (in einem sehr spezifischen Verständnis) aufweisen müssten, zum anderen eine nicht unerhebliche Ignoranz gegenüber aktueller Forschung zu Antisemitismus und Rassismus. Begriffe wie Alltagsrassismus oder anti-muslimischer Rassismus finden kaum Niederschlag in juristischen Diskursen und auch einige Beiträge in Debatten um racial profiling zeugen von wenig transdisziplinärer Professionalität.
Das Seminar widmet sich der Frage, wie der Nationalsozialismus nach 1945 in der deutschen Rechtswissenschaft thematisiert wurde und insbesondere, wie die Auseinandersetzung mit diesem Teil der Geschichte der Rechtswissenschaft und anderer juristischer Professionen und Institutionen erfolgte. Wer brach das Schweigen, bevor die wesentlichen Protagonisten verstorben waren, und wie reagierte der juristische Diskurs darauf? Ferner soll die Befassung mit Antisemitismus und rassistischer Diskriminierung sowie rechtlichen Konzeptionen hiergegen beleuchtet werden. Bezieht sich die deutsche Rechtswissenschaft in der Thematisierung von Antisemitismus und Rassismus auf den Nationalsozialismus und ist dies produktiv? Und inwieweit sind neuere Konzepte von Rassismus (bspw. Kulturalismus, Okzidentalismus) bekannt und werden verarbeitet oder in Beziehung gesetzt? |
Bemerkung |
Erwartet werden die Teilnahme an allen Terminen, die vorbereitende Lektüre juristischer und theoretischer Texte und die Bearbeitung von Leseaufgaben sowie in Gruppenarbeit die vertiefte Befassung mit den Texten und Themen eines Seminartermins, um diesen Termin zu gestalten, und schließlich die aktive Beteiligung an den Diskussionen. Anmeldung bis 8. April 2022 per E-Mail an das Team unter sekretariat.lembke@rewi.hu-berlin.de mit Angabe Ihres Namens, Matrikelnummer, Studiengang und Studiensemester sowie zwei bis drei Sätzen, warum Sie das Seminar interessiert. Hinweis: Auf Grund des erhöhten Betreuungsaufwands ist die Zahl der Plätze beschränkt. |