Kommentar |
Als sich 1901 die Skandinavistin Adeline Rittershaus bemühte, mit ihrer Habilitationsschrift „Die neuisländischen Volksmärchen: Ein Beitrag zur vergleichenden Märchenforschung“ an der Universität Bonn zur Habilitation zugelassen zu werden, scheiterte sie an der damals noch sehr frauenfeindlichen Gesetzgebung Preußens und dem dezidierten Unwillen der Professoren, eine Frau als gleichberechtigte Forscherin und Kollegin zu akzeptieren. Ihre Erfahrungen mit der preußischen Gesetzgebung und dem patriarchal ausgerichteten Kollegium machte Rittershaus dann im Februar 1902 auch umgehend in der Zeitschrift „Frauencorrespondenz“ publik, wo sie einen zweiteiligen Artikel veröffentlichte, dessen Titel die rhetorische Frage trug „Kann eine Frau in Deutschland Privatdozentin werden?“.
Im Vertiefungskurs/Seminar „Verfemte feministische Forschung – Kann eine Frau in Deutschland Privatdozentin werden?“ werden wir gemeinsam der Frage nachgehen, wie zur Zeit des Deutschen Kaiserreichs Forscherinnen und ihre feministische Forschung diskursiviert und darüber aktiv aus dem universitären Lehrbetrieb ausgegrenzt wurden. Die Thematik werden wir beispielhaft anhand der Forschung und des Lebens von Adeline Rittershaus (geboren 1867 im Rheinland, gestorben 1924 in Berlin) erarbeiten. Trotz der unkonventionellen Biographie Rittershaus‘ – Abitur mit 27 Jahren auf dem zweiten Bildungsweg, frühe Islandreisende, zweifach geschiedene, alleinerziehende Mutter und Leiterin einer Pension, die von europäischen, oppositionellen Exilant*innen bewohnt wurde – soll das geplante Seminar jedoch keine biographistische Ausrichtung erhalten. Vielmehr wird die Biographie Rittershaus‘ als sozio-historischer Rahmen dienen, um die Diskursivierung ihrer Forschungsarbeit, ihrer Lehre und ihrer publizistischen Tätigkeit und den damit verbundenen Widrigkeiten innerhalb des akademischen Arbeitsumfeldes zu analysieren.
Folgende Themenblöcke zur Forschungs-, Publikations- und Lehrtätigkeit von Adeline Rittershaus werden in Kleingruppen bearbeitet:
- Altnordische Frauen: Auseinandersetzung mit Adeline Rittershaus‘ selbst in der skandinavistischen Mediävistik beinahe in Vergessenheit geratene Monografie „Altnordische Frauen“ (Frauenfeld und Leipzig 1917) hinsichtlich früher feministischer Theorieansätze. Dabei soll insbesondere auch die Rezeptionsgeschichte dieser Arbeit analysiert werden, die im Rahmen von Rezensionen und Diskussionen innerhalb nachfolgender Forschungsliteratur zugänglich ist.
- Lehre: Anhand des Pamphlets „Ziele, Wege und Leistungen unserer Mädchenschulen und Vorschlag einer Reformschule“ (Jena 1901) erhalten wir Einblick in das feministisch ausgerichtete pädagogische Konzept von Rittershaus und versuchen dieses sowohl mit ihrer universitären Lehrtätigkeit als auch mit den reformpädagogischen Strömungen der damaligen Zeit abzugleichen.
- Märchenforschung: Mit „Die neuisländischen Volksmärchen: Ein Beitrag zur vergleichenden Märchenforschung“ (Halle a.S. 1902) legte Rittershaus nicht nur ihre Habilitation vor, sondern brach damit auch mit der damaligen, durch die Gebrüder Grimm und Theodor Benfey geprägten Forschungsansicht, dass alle europäischen Märchen einen indischen Ursprung hätten. Wie hängt die Ablehnung der Habilitation an der Universität Bonn mit der Geschlechterfrage und dem Bruch mit der wissenschaftlichen Standardauffassung zusammen?
- Universitäre Widrigkeiten: Mit ihrem Artikel in „Frauencorrespondenz“, der heute nur noch als Kopie im Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz zugänglich ist, reagierte Rittershaus auf die Ablehnung ihres Habilitationsgesuchs im Deutschen Kaiserreich. Doch wie argumentierte man damals mit Bezug auf die Geschlechterfrage an den Universitäten? Nebst der Sichtung des Artikels werden wir versuchen, durch Einsicht in die Aktenlage zu den Diskussionen an der Universität Bonn und an der Universität Zürich, an der Rittershaus 1902 schließlich zur Privatdozentin ernannt wurde, auch die patriarchalen Machtstrukturen an den Universitäten zu analysieren.
Der diskurshistorische Ansatz soll uns dabei auch ermöglichen – durch den Abstand über die historische Folie des Deutschen Kaiserreichs – neue Zugänge zu eigenen Erfahrungen aus dem gegenwärtigen, universitären Alltag zu finden und kritisch zu reflektieren. |
Bemerkung |
Der Vertiefungskurs/das Seminar wird von der dazugehörenden Übung „Verfemte feministische Forschung sichtbar machen“ (UE: 5230029, Do., 16-18 Uhr) begleitet. Es wir wärmstens empfohlen, beide Veranstaltungen gemeinsam zu belegen! |
Zielgruppe |
Der Vertiefungskurs/das Seminar richtet sich an alle interessierten Studierenden, insbesondere der Skandinavistk/Nordeuropa-Studien, die sich anhand der unkonventionellen Biographie und der progressiven Forschung einer beinahe in Vergessenheit geratenen Skandinavistin mit frühen feministischen Ansätzen in den Geisteswissenschaften auseinandersetzen wollen. |