Kommentar |
„Ein Gespenst geht um in der Welt – der Populismus“. Dies stellten die Sozialwissenschaftler Ghita Ionescu und Ernest Gellner (1969) bereits vor fünfzig Jahren fest. „Populismus“ konnte bei jener Londoner Tagung als „Ideologie“, „Bewegung“ oder „Kommunikationsform“ in der „Vielfalt seiner Inkarnationen“ beschrieben werden. In jüngerer Zeit wurde der Terminus auf recht verschiedene Situationen angewandt, in Europa eher auf der rechten Seite des politischen Spektrums, in Lateinamerika eher auf der linken. Populismus in Lateinamerika kommt der Tendenz nach aus einer vertikalen Konfiguration: Die sozial definierte plebs gegen die Elite. In Europa entstammt er aus einer stärker horizontalen Dimension: Das national bestimmte „Volk“ gegen die ausländischen Eindringlinge.
Nun ist „Volk“, historisch wie systematisch, ein prekärer Begriff, der sich auf eine nur prekär empirisch beschreibbare Realität bezieht. Gewiss ist zudem die „vox populi“ weder einfach „vox Rindvieh“ noch „vox Dei“. Doch geht es darum, die Bevölkerung als dynamisches Kollektiv von Subjekten mit ihren spezifischen Ängsten und Wünschen anzuerkennen und zu Wort kommen zu lassen. Zugleich braucht es eine Referenz, die nicht von der Stimmung der Mehrheit abhängig ist und gerade dem Schutz von Minderheiten dient, wie sie im demokratischen Rechtsstaat vorgesehen ist. Religionsgemeinschaften können ihrerseits Exklusionen verstärken, trotz Unterscheidungen aber auch inklusiv sein, als Resonanzkörper für Ängste und Wünsche wirken und den Schutz vor Gewalt und Unterdrückung, auch und gerade von Minderheiten, theologisch und praktisch fördern.
In diesem Blockseminar wird, namentlich anhand des Beispiels Brasiliens, aber auch im Vergleich mit anderen Kontexten sowie der aktuellen soziologischen, politologischen und theologischen Theoriebildung, das begriffliche und empirische „Volk“, auch das „Volk Gottes“ in den Blick genommen, das u.a. im Rückgriff auf Ernesto Laclau, Chantal Mouffe, Leonardo Boff und Vítor Westhelle nicht als eine gegebene Größe, sondern als Prozess und dynamisches Ereignis gesehen wird. |
Literatur |
Zur Einführung:
Diehl, Paula, Die Komplexität des Populismus. Ein Plädoyer für ein mehrdimensionales und graduelles Konzept, in Totalitarismus und Demokratie 8 (2011), 273-291.
Kaltwasser, Cristobal Rovira, Paul A. Taggart, Paulina Ochoa Espejo und Pierre Ostiguy (Hg.), The Oxford Handbook of Populism, Oxford: Oxford University Press, 2020. (v.a. die Einleitung 1-24)
Höhne, Florian und Torsten Meireis (Hg.), Religion and Neo-Nationalism in Europe. Baden-Baden: Nomos, 2020.
Sinner, Rudolf von, Populismus, Volk und Politik als Herausforderung für eine öffentliche Theologie, Zeitschrift für Evangelische Ethik, Gütersloh 65/1 (2021), 8-20.
Sinner, Rudolf von, Public Theology in the Secular State: A Perspective from the Global South. Münster: LIT, 2021 [erscheint im Oktober 2021] |
Bemerkung |
Das Seminar findet in zwei Blöcken im Januar 2022 an folgenden Terminen statt:
21.-23.1.22 – Fr: 16-19 Uhr, Sa: 9-12 und 13-16 Uhr, So: 14-17 Uhr
28.-30.1.22 – Fr: 16-19 Uhr, Sa: 9-12 und 13-16 Uhr, So: 14-17 Uhr
Um Anmeldung wird gebeten unter: rudolf.vonsinner02@gmail.com
Prof. Dr. theol. habil. Rudolf von Sinner ist Schweizer und lebt und arbeitet seit 20 Jahren in Brasilien. Er ist Professor für Systematische Theologie an der Pontifikalen Katholischen Universität von Curitiba sowie außerordentlicher Professor an der Theologischen Fakultät der Universität Stellenbosch (Südafrika) und wird vom 1.12.2021-28.2.2022 mit Unterstützung der Alexander von Humboldt-Stiftung am Berlin Institute for Public Theology forschen. Er ist zur Zeit Vorsitzender des Global Network of Public Theology (http://gnpublictheology.net). |