Kommentar |
Im 11. und 12. Jahrhundert entstand im christlichen Abendland eine neue literarische Gattung, die das asketische Thema der Verachtung der Welt entwickelte und zu einem der zentralen Leitmotive des mittelalterlichen Welt- und Menschenbildes machte. Ein Meisterwerk dieser Gattung ist die Schrift, mit der wir uns in diesem Kurs auseinandersetzen werden, und zwar die 1195 verfasste Schrift De miseria humanae conditionis des Kardinals Lothar von Segni (1198 zum Papst mit dem Namen Innozenz III gewählt).
In De miseria conditionis humanae behandelt Lothar die Unvollkommenheit des menschlichen Daseins. Der Text ist in drei Teile eingegliedert: Im ersten Teil werden das Elend des menschlichen Körpers und die Schwierigkeiten beschrieben, mit denen die Menschen lebenslang umgehen müssen; im zweiten Teil werden die weltlichen Ambitionen der Menschen – Reichtum, Lust, Ehre und Ruhm – in Betracht gezogen und in ihrer Leere aufgezeigt; der dritte Teil des Werkes stellt eine bildhafte meditatio mortis dar, die sich um die Beschreibung des Zerfalls der menschlichen Leiche und die Vorstellung des hoffnungslosen Zustandes der Verdammten in der Hölle dreht. Ausgehend von einer scharfen Ablehnung alles Körperlichen und einer Verdammung der menschlichen Seele als sündig und verdorben gelangt Lothar zu einem pessimistischen Menschenbild. Das Werk folgt der überlieferten Lehre von der Hölle als Ort der ewigen Strafe für Sünder. Er betont zugleich den Vorrang des Klerus vor den Laien. Den Papst sah er „in die Mitte gestellt zwischen Gott und Mensch, diesseits Gottes, aber jenseits des Menschen, weniger als Gott, aber mehr als der Mensch“. Demgemäß sei der Papst vicarius Christi, nicht nur Amtsnachfolger Petri.
Im Kurs wird es darum gehen, dieses Werk in seinem kulturellen, theologischen und ideengeschichtlichen Kontext einzurahmen und die Fragen zu erörtern, in welchem Verhältnis zum Menschenbild des Früh- und Orientchristentums dieses Werk steht und inwiefern der anthropologische Pessimismus von Lothar das Menschenbild des abendländischen Mittelalters geprägt hat. In diesem Zusammenhang wird ein großer Teil unserer Interpretationsarbeit in einer Quellenanalyse bestehen, um verstehen zu können, wie Lothar an die biblischen Quellen herangeht, nach welchen Kriterien er seine Quellen selektiert, welche biblische Motive besonders betont und welche vernachlässigt bzw. in den Hintergrund gestellt werden.
Eine ausführliche Literaturliste wird am Anfang des Semesters zur Verfügung gestellt. |