Kommentar |
Als Gottfried Wilhelm von Leibniz 1696/97 über die Gründung einer Societät der Wissenschaften in Berlin nachdachte, machte er zugleich einen Vorschlag zu ihrer Teilfinanzierung: die Gewinnung von Seide, welche er „Seidencultur“ nannte. Dem 1707 tatsächlich erteilten Privileg zur Anpflanzung von weißen Maulbeerbäumen und der Zucht von Seidenraupen folgte die Hochzeit des Seidenanbaus in Preußen unter Friedrich II. Doch auch das 19. und 20. Jahrhundert sahen immer wieder (politische) Nachwehen jenes Traums von einer Rohstoffautarkie in Sachen Seide. Es handelt sich bei dieser heute vergessenen Industrie um ein wirtschaftliches Phänomen, das zugleich mit sozialen Hierarchien, Migrationspolitiken und kulturell-metaphorischen Aufladungen verbunden war.
Die Vorlesung geht der Geschichte des Seidenbaus in Preußen nach, indem sie sie historisch vom 17. bis ins 20. Jahrhundert hinein entfaltet und dabei ein besonderes Augenmerk auf die Wandlungen des weiten Begriffs der „Cultur“ legt, der Agrikulturen mit höfischen bzw. bürgerlichen Kulturen wie auch mit Formen der Wahrnehmung verbindet. Seide wird im wörtlichen wie im übertragenen Sinne als Gewebe gelesen: als Movens ebenso wie als Effekt vielfacher Verflechtungen und Verdichtungen von wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Ökonomien. |