Bevor Cervantes’ Don Quijote und die Novela picaresca die spanischen Kolonien Amerikas erreichen, entwickeln sich dort die Anfänge des Romans aus der Gattung der (epischen) Reiseberichte. Diese traditionsreiche, bis auf das Bordtagebuch des Christoph Kolumbus zurückgehende Gattung verändert sich im 17. Jahrhundert, als die in Amerika geborenen Nachfahren der spanischen Eroberer ebenso wie Neueinwanderer ein „kreolisches“ Bewusstsein entwickeln und – stets von Texten als den hauptsächlichen Medien begleitet – damit beginnen, die zu kolonisierenden Territorien nicht mehr als eine fremde, zu erobernde, sondern als eine eigene Welt zu begreifen. Diesen Moment der Formation fiktionaler Prosa im Kontext eines aufkommenden Interesses für die vergleichende Kulturanthropologie und Sprachphilosophie gilt es im Seminar anhand von Ausschnitten der folgenden Werke zu beleuchten:
Bernardo de Balbuena: El siglo de oro (1608) Inca Garcilaso de la Vega: Comentarios Reales de los Incas (1609) Juan Rodríguez Freyle: El Carnero (1638) Carlos de Sigüenza: Los infortunios de Alonso Ramírez (1690)
Neben der Wiederholung gattungsgeschichtlicher Grundkonzepte soll dem theoretischen Aspekt der Regelfreiheit von Romanprosa, der in der Epoche vehement diskutiert wurde, besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.
Weitere Texte:
Pedro de Solís y Valenzuela: El desierto prodigioso y prodigio del desierto, ca. 1650 |