Kommentar |
Das Seminar baut auf der Arbeit des gleichnamigen Studienprojekts und den Themen, die bereits in den vergangenen beiden Semestern von der Projektgruppe erarbeitet wurden, auf. Grundlegend ist die These, dass eine „postmigrantische“, d.h. langfristig durch vielfältige Migrationen geprägte Berliner Stadtgesellschaft ebenso vielfältige Bezüge zu kolonialen Geschichten in einer postkolonialen Gegenwart vor Ort zusammenbringt. Menschen mit unterschiedlichen Erfahrungen post/kolonialer Verflechtungen teilen sich den Stadtraum und bringen ihre spezifischen Sichten auf diese geteilte Globalgeschichte ein. Die zentrale Frage des Studienprojekts ist, inwieweit die so entstehenden postkolonialen Nachbarschaften in Berlin und anderen Orten neue, multiple, intersektionale Auseinandersetzungen mit weiter wirkenden Kolonialismen, Rassismen, mit Antisemitismus und Nationalsozialismus eröffnen. Inwieweit trägt die lange Geschichte der Migrationen dazu bei, urbane Räume multidirektionaler Erinnerung zu schaffen und bürgerschaftliche Verortungen in einer mit der Welt verflochtenen Stadtgesellschaft zu ermöglichen? Wie werden entsprechende Forderungen nach anerkannter Präsenz und gemeinsamer Zukunft in einer Stadt der Vielen verhandelt? Und wie betrifft dies nicht nur die im dominanten Blick migrantisierten Zonen und die als nicht (ganz) Weiß gelesenen Bürger*innen der Stadt, sondern auch die scheinbar nicht betroffenen Sphären der so genannten deutschen Mehrheitsgesellschaft? Welche übergreifenden Figurationen, Texturen und Entwürfe der postmigrantischen, postkolonialen Stadt werden hier erkennbar?
Die Projektgruppe hat bisher u.a. an folgenden Themenfeldern gearbeitet, zu denen, soweit die Corona-Lage das zuließ, vor Ort und digital geforscht wurde:
- Anton Wilhelm Amo in Debatten um Erinnerungskultur in Ostdeutschland (Ulrike Mausolf)
- Nettelbeckplatz in the (Re-)Making: Ethnographische Forschungen zu feministischem Aktivismus, postkolonialer Aufarbeitung und Nachbarschaft im Berliner Wedding (Josepha Jendricke)
- Das Theater Karlshorst: Ein Raum für Kultur in einer postsozialistischen Nachbarschaft (Nicole Kaminer)
- Erinnern dekolonisieren (Sabrina Mainz)
- Widerstand und Solidarität in pandemischen Zeiten: Verwobenheiten von antirassistischer, feministischer Praxis, Grasroot Aktivismus und der Weg in die Professionalisierung aktivistischer Arbeit (Johara Sarhan)
- Die Nachbarschaft des Haus der Statistik am Alexanderplatz in Berlin (Anneliese Ostertag)
- Postkolonialer und feministischer Widerstand an und mit der „Friedensstatue“ in Berlin-Moabit (Seeok On)
- Dynamics of Citizenship: Migration und Vorstellungen kollektiver und normativer Werte (David Gomez)
- Das deutsch-russische Museum in Karlshorst (Karina Belik)
- Dekoloniales Flanieren und Anton-Wilhelm-Amo Salon: Das Institut für Europäische Ethnologie als Ort der kollaborativen Forschung zum postkolonialen Umdenken in der Stadtgesellschaft (Nachbarschaftsinitiative Anton-Wilhelm-Amo-Straße)
Die Forschungen an diesen Themen werden in diesem Semester fortgesetzt. Zugleich wird das Projekt für neue Seminarteilnehmende geöffnet, die sich per Diskussion und Reflexion sowie durch eigene Recherchen an der Forschungsarbeit beteiligen können. Eine Zusammenarbeit in einzelnen Feldern des Projekts ist möglich. Darüber hinaus können eigene Vorschläge für empirische Recherchen eingebracht werden, insbesondere in folgenden thematischen Feldern:
- Geschichte der Auseinandersetzungen um die Umbenennung der Berliner M*Straße
- Kolonialismus, Antisemitismus und Rassismus im Wohnzimmerschrank: Objekte und Erinnerungen in postkolonialen, postnationalsozialistischen Familiengeschichten
- Gastarbeit, Vertragsarbeit, Exil: Europäische und postsozialistische Kolonialgeschichten in Bewegungen der Flucht und Arbeitsmigration
Neue Teilnehmende sollten grundlegende Kenntnisse der kritischen, transnational orientierten Migrationsforschung sowie der postkolonialen Theorie mitbringen.
Fragen zu Bedingungen und Möglichkeiten der Teilnahme können vorab an mich gerichtet werden: regina.roemhild@hu-berlin.de
Präsenzseminar (nach Möglichkeit), je nach pandemischer Lage und nach Absprache mit den Teilnehmenden können auch digitale sowie hybride Lehr- und Lernformate zum Einsatz kommen. |
Literatur |
Adam, Jens u.a. (Hg.) (2019): Europa dezentrieren. Globale Verflechtungen neu denken. Frankfurt a.M., New York: Campus.
Conrad, Sebastian u.a. (Hg.) (2013): Jenseits des Eurozentrismus. Postkoloniale Perspektiven in den Geschichts- und Kulturwissenschaften. 2., erw. Aufl. Frankfurt a.M., New York: Campus.
Labor Migration (Hg.) (2014): Vom Rand ins Zentrum. Perspektiven einer kritischen Migrationsforschung. Berlin: Panama, 10-24.
Rothberg, Michael (2009): Multidirectional Memory: Remembering the Holocaust in the Age of Decolonization. Stanford: Stanford University Press.
Rothberg, Michael (2019): The Implicated Subject: Beyond Victims and Perpretrators. Stanford: Stanford University Press. |