Kommentar |
Der Erste Weltkrieg beendete, wie häufig gesagt wird, nicht nur das „lange 19. Jahrhundert“, das eigentlich erst 1918 zu Ende ging, sondern bildete auch die Apokalypse einer bürgerlich-humanistischen Kultur, deren Ideale des Wahren, Schönen, Guten die Gräuel der Schlachtfelder nicht hatten verhindern können. Die Reaktion darauf erfolgte in den 1920er Jahren: Im Zuge der Verabschiedung alles Romantischen, aller Subjektivität und allen Gefühlsüberschwangs unter dem Schlagwort „Neue Sachlichkeit“ entstand die sogenannte „Zeitoper“, in der sich tagesaktuelle Stoffe, populäre Musikstile und beißende Ironie zu jenem „Tanz auf dem Vulkan“ formierten, der für die „roaring twenties“ charakteristisch war – bis die Weltwirtschaftskrise 1929 solchem Leichtsinn auf der Musiktheaterbühne ein Ende bereitete.
Neben dieser Strömung jedoch, der schon häufig die Aufmerksamkeit der Musikwissenschaft galt, gab es eine zweite, nicht weniger interessante: Werke kamen heraus, die auf den „Weltuntergang“ des Jahres 1918 mit einer Wendung ins Metaphysische, Religiöse oder Transzendente antworteten, und zwar durch Rückgriff auf Formen des Mysterienspiels, in deren Rahmen nichts Geringeres verhandelt wurde als der manichäische Konflikt zwischen Gut und Böse, zwischen Licht und Finsternis schlechthin. Hierzu zählt die spektakuläre, zwischen 1921 und 1923 geschriebene, aber erst 1999 (!) szenisch uraufgeführte Oper Antikrist des dänischen Komponisten Rued Langgaard, deren Neuinszenierung an der Deutschen Oper Berlin (Premiere: 30. Januar 2022) diesem Seminar als Anlass dient. Damit ist nicht nur die Möglichkeit gegeben, ein selten gespieltes Werk in den Blick zu nehmen; es besteht darüber hinaus die Chance, direkt mit den Beteiligten zu diskutieren, wie ein solches Stück heute auf die Bühne gebracht werden kann: Die Lehrveranstaltung findet in Zusammenarbeit mit der Dramaturgie der Deutschen Oper Berlin statt und umfasst neben den Seminarsitzungen auch Probenbesuche inklusive nachbereitender Gespräche.
Ebenso werden im Seminar behandelt (nach gegenwärtigem Planungsstand): Erich Wolfgang Korngolds Das Wunder der Heliane (1927), Viktor Ullmanns Der Sturz des Antichrist (1935), Bohuslav Martinůs Hry o Marii („Marienspiele“, 1935) und Arthur Honeggers Jeanne d’Arc au bûcher („Johanna auf dem Scheiterhaufen“, 1938). |
Literatur |
Auswahl (nur Überblicksdarstellungen zur ersten Orientierung)
- Musiktheater im 20. Jahrhundert, hrsg. von Siegfried Mauser, Laaber 2002 (Handbuch der musikalischen Gattungen 14)
- Oper im 20. Jahrhundert. Entwicklungstendenzen und Komponisten, hrsg. von Udo Bermbach, Stuttgart und Weimar 2000
- Ulrich Schreiber, Opernführer für Fortgeschrittene, Bd. 3: Das 20. Jahrhundert, Teil 1: Von Verdi und Wagner bis zum Faschismus, Kassel u. a. 2000
The Cambridge Companion to Twentieth Century Opera, hrsg. von Mervyn Cooke, Cambridge 2005 |