Kommentar |
Soziale und kulturelle Dynamiken und deren kulturelle Formung und Überformung wurden in den Kulturwissenschaften vorwiegend auf Bedeutungen, Strukturen, Lesbarkeit und Bildlichkeit hin betrachtet. Können sie aber auch auf ihre musikalische Grundierung hin untersucht werden, indem man folgende Ausgangsfrage stellt: Was an unserem Leben und Erleben, was an unserer Kultur lässt sich als in-Bewegung-versetzt, aufeinander eingestimmt, rhythmisch-affektiv koordiniert, harmonisch und disharmonisch beschreiben?
Die Selbstbeschreibung der hellenischen und hellenistischen Kultur war zu einem guten Teil durch die Referenz auf die Musen (d. h. die Musikalität des sprachlichen, mathematischen und praktisch-performativen Wissens und Könnens) bestimmt – und die bis auf den heutigen Tag nachwirkende Tradition der Sieben Freien Künste leitet sich aus dieser Tradition her. Mittelalter und Renaissance kannten in ihrer Unterscheidung von musica mundana, musica humana und musica instrumentalis eine musikalisch geordnete Kosmologie, die sich auf den menschlichen Mikrokosmos und damit die Medizin erstreckte. Erst infolge des Siegeszugs des Realismus im 19. Jahrhundert und der semiologisch und konstruktivistisch bestimmten Neuausrichtung der Geisteswissenschaften im 20. Jahrhundert haben musikalische Paradigmen der Kulturbeschreibung immer weniger Anklang gefunden. Dennoch lassen neuere Forschungsentwicklungen mit Fokus auf Performativität, auf praxistheoretische Forschungsfelder und auf Fragen des Embodiment immer deutlicher die Beschränkungen dieser Paradigmen erkennen.
Vor diesem Hintergrund wird in dem Seminar der Frage nach einem musikalischen Paradigma für die Kulturwissenschaften nachgegangen. Das Seminar wird teilweise in Kooperation mit dem Kulturwissenschaftler Jan Söffner (Zeppelin Universität) angeboten, der am Ende Oktober 2021 mit seinen Studierenden eine Exkursion zum Arbeitsraum für Musiktechnologie, Aisthesis und Interaktion (TAIM) der HU Berlin plant. Im Rahmen dieser Kooperation wird zudem die Möglichkeit geboten, anhand des von der Dozentin geleiteten, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung (BMBF) geförderten Forschungsprojekts „Soziale Interaktion durch Klang-Feedback – Sentire“ empirische Studien zum Musikalischen zu vollziehen. |