Kommentar |
Hannah Arendt (1906-1975) ist längst von einer umstrittenen Denkerin zu einer Klassikerin der modernen politischen Theorie geworden – eine Theorie, die aus den Erfahrungen von Flucht und Staatenlosigkeit schöpfte und zugleich zentrale Phänomene des 21. Jahrhunderts vorwegnahm. Es gibt viele Linien, die von ihrem Denken ausgehen, eine führt zu dem, was wir heute „Bürgergesellschaft“ nennen. In den letzten Jahrzehnten, nach ihrem Tod, hat das Interesse an ihrem Denken weltweit zugenommen. Ihr Werk erlebte mit den Freiheitsrevolutionen in Mittel-und Osteuropa eine Renaissance. Arendts Erfahrungen mit dem Nationalsozialismus und Stalinismus führt zur Überzeugung, dass der Sinn von politischem Handeln, die Freiheit, das freie, verantwortliche Handeln, ist. Nur „in dem Zusammen der Menschen in der gemeinsam gegebenen Welt“, meint Arendt, „kann sich die Existenz überhaupt entwickeln“. Als Theoretikerin des Politischen gibt sie bis heute Denkanstöße über die alte Frage nach dem „guten“, d.h. den Bürgern angemessenen Leben. „Denken ohne Geländer, das ist es in der Tat, was ich zu tun versuche“. So beschreibt Hannah Arendt ihre Arbeit. Das bedeutet: radikal unabhängiges Denken, frei von jeglicher Schubladen- und Schulzuordnung. „Ich war immer der Meinung, dass man so zu denken anfangen müsste, als wenn niemand zuvor gedacht hätte. Und dann beginnen sollte, von den anderen zu lernen“, sagte Arendt. Gerade diese Art des kritischen und vorurteilsfreien Denkens macht sie für uns heute interessant. Das Seminar wird jenes reflektierte Urteilen, das aus dem Denken ohne Geländer erwächst, anhand verschiedener Texte Hannah Arendts diskutieren und im Spiegel gegenwartsbezogener Fragen aktualisieren.
Das Seminar übt mit Arendt, „wie man denkt“, ohne „Vorschriften darüber, was gedacht werden soll oder welche Wahrheiten hochzuhalten wären“. Angesichts der politischen Ereignisse ihrer Zeit fragt Arendt: „Hat Politik überhaupt noch einen Sinn?“ Ihre Antwort: „Der Sinn von Politik ist Freiheit“. Denn politische Freiheit, Freiheit überhaupt, ist für Hannah Arendt unabdingbar verknüpft mit dem, was Kant sensus communis nennt, Gemeinsinn. Der Gemeinsinn begründet einen stets offen zu haltenden Zwischenraum, in dem sich frei bewegt, gedacht, verhandelt und reflektiert geurteilt werden kann.
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Literatur |
- Hannah Arendt: Denken ohne Geländer. Texte und Briefe, Bonn 2006.
- Hannah Arendt: Vita Activa oder Vom tätigen Leben, München 2001.
- Richard J. Bernstein: Denkerin der Stunde. Über Hannah Arendt, 2020.
- Hannah Arendt: Im will verstehen. Selbstauskünfte zu Leben und Werk, München 1996.
- Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft, München 1995.
- Hannah Arendt: Die Freiheit, frei zu sein, München 2018.
- Hannah Arendt: Was heißt persönliche Verantwortung in einer Diktatur, 2018.
- Hannah Arendt: Zwischen Vergangenheit und Zukunft. Übungen im politischen Denken I, München 1994.
- Hannah Arendt: Was ist Existenzphilosophie? Frankfurt am Main 1990.
- Elisabeth Young-Bruehl: Hannah Arendt. Leben, Werk und Zeit, Frankfurt am Main 1991.
- Christian Volk: Die Ordnung der Freiheit. Recht und Politik im Denken Hannah Arendts, Nomos Verlag, Baden-Baden 2010
- Hannah Arendt: Verborgene Tradition – Unzeitgemäße Aktualität? (Hg.) Heinrich-Böll-Stiftung. Deutsche Zeitschrift für Philosophie. Sonderband 16.
- Waltraud Meints, Katharina Klinger (Hg.): Politik und Verantwortung. Zur Aktualität Hannah Arendt, Hannover 1994.
- Seyla Benhabib: Hannah Arendt. Die melancholische Denkerin der Moderne, Hamburg 1998.
- Jürgen Habermas: Hannah Arendt, in: Philosophisch-politische Profile, 1981.
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