Wer das 19. Jahrhundert kennenlernen will, muss die Menschen dort aufsuchen, wo sie lebten: in den Dörfern und ‚auf dem Land‘. Diese Räume verloren auch mit zunehmender Urbanisierung nicht an Bedeutung: ‚Städtisch‘ oder ‚ländlich‘ galt schon den Zeitgenossen weniger als Machtgefälle zwischen hegemonialen und kolonisierten Räumen denn als Lebenshaltung oder/und Wertvorstellung. – Was die Menschen bewegte, was sie forderten, was sie sich erhofften, wie sie sich selbst sahen, wie sie gesehen werden sollten oder wollten, wie sie lebten und wodurch sie determiniert wurden, woher sie kamen oder warum sie auswanderten etc., all dies lässt sich am literarischen Dorf auf ganz besonders eindringliche Weise beobachten. Dorfgeschichten-Autor*innen verstanden ihre Texte dabei nicht selten als zentralen Bestandteil eines eminent politischen Engagements; in ihren Geschichten wird das Dorf als Mikrokosmos lesbar. Dass also die ‚Dorfgeschichten neueren Typs‘ um 1840 ‚erfunden‘ wurden, ist so bezeichnend wie naheliegend. Die Texte reagierten auf die Zumutungen der Moderne, indem sie diese abbildeten und reflektierten, gestalteten und erzeugten. Die Überforderungen einer Lebenswelt, die durch Technisierung und Industrialisierung, Verstädterung, Säkularisierung und Globalisierung immer unübersichtlicher zu werden drohte, wurden so in ihrer Komplexität sowohl ausgestellt als auch eingehegt. – Ausgehend von diesen Überlegungen zeichnet die VL die Kultur-, Sozial- und Mediengeschichte des (literarischen) Dorfs im 19. Jahrhundert nach. Die genauere Auswahl der zu behandelnden Primärtexte wird zu Semesterbeginn auf Moodle eingesehen werden können; neben den ‚Klassiker*innen‘ (Berthold Auerbach, Annette von Droste-Hülshoff, Gottfried Keller, Theodor Storm u.a.) werden Texte behandelt, die heute weniger bekannt sind, aber das Genre im 19. Jahrhundert entscheidend prägten (z.B. Texte aus populären Zeitschriften oder von ‚schreibenden Bauern‘).Die Vorlesungsinhalte sollen grundsätzlich asynchron zur Verfügung gestellt werden; zugleich wird es regelmäßige synchrone Einheiten zum digitalen Austausch per Zoom geben. (Weitere Informationen finden Sie rechtzeitig zu Semesterbeginn auf Moodle.)
Zur vorbereiteten Lektüre empfohlen: Michael Neumann/Marcus Twellmann: Dorfgeschichten. Anthropologie und Weltliteratur. In: DVjs 88 (2014). H. 1, S. 22-45; Jesko Reiling: Die Nation im Dorf. Dorfgeschichten im 19. Jahrhundert. In: Zeitschrift für Ideengeschichte Heft IX/2 (2015): Das Dorf. S. 29-38.