Kommentar |
Gustav Freytags Soll und Haben (1855) ist ein Jahrhundertroman. Die Programmatiker des poetischen Realismus um Julian Schmidt und die Grenzboten-Zeitschrift werteten den Bildungs- und Kaufmannsroman als Vorzeigeroman ihrer Zeit. Bis tief ins 20. Jahrhundert blieb er einer der beliebtesten, als unentbehrliches Bildungsgut bürgerlicher Haushalte verschriener Roman. Heute wird der in Berlin spielende Roman, zugleich einer der ersten Großstadtromane in deutscher Sprache, indes kaum noch und wenn doch dann nur noch mit großer Versicht gelesen. Der einstige Prototyp des deutschsprachigen Realismus gehört dem Kanon desselben nur noch als ein bedauerlicher Zwischenfall an. Seit der Menschheitskatastrophe der Shoah stechen die antisemitischen Aspekte des Romans, der eine integre deutsche Form des Wirtschaftens gegen den jüdischen Wucher abhebt, so grell hervor, dass der Text für viele Leser*innen ungenießbar geworden ist. Dabei waren es – dieser These wird das Seminar nachgehen – gerade die von Zeitgenossen positiv als ‚realistisch‘ gewerteten Aspekte, die es später notwendig machten, den Roman als ‚antisemitisch‘ zu labeln: eine typisierende, auf materielle Verhältnissse und sinnliche Erscheinungen abzielende Darstellungsform, die allerdings auf moralischen Normen und künstlerischer Idealisierung nicht gänzlich verzichtet. Verkomplizierend kommt hinzu, dass sich Gustav Freytag in Aufsätzen wiederholt für die Emanzipation der Juden eingesetzt hat, eine antisemitische Intention kann dem Autor kaum zugesprochen werden. Das SE wird versuchen, sich dem Roman mit aller Vorsicht anzunähern und versucht zunächst, Freytags Werk in seiner ganzen Breite zu erschließen: Dazu gehört neben dem Lustspiel Die Journalisten (1852) auch seine bis in germanistische Einführungsliteratur präsente Dramentheorie (Die Technik des Dramas, 1863) sowie das vierbändige Geschichtswerk Bilder aus der deutschen Vergangenheit (1859-1967). In all diesen Texten ist das Problem des Antisemitismus bereits präsent. Die im Seminar zu diskutierende Frage, worum es sich dabei eigentlich handelt, führt unmittelbar ins Herz gegenwärtiger Debatten um Identitätspolitik und Populismus. Den Roman nicht zu lesen, wäre deshalb auch keine Lösung. Diese LV wird synchron verlaufen.
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