Kommentar |
Das Inselmotiv nimmt einen prominenten Platz in der Literaturgeschichte des modernen europäischen Romans ein: Sowohl als imaginärer Ort gesellschaftlicher Modellbildung (Th. Morus‘ Utopia), als auch als Metapher im den Kolonialdiskurs begründenden Robinson Crusoe von Daniel Defoe. Als räumliche Metapher ist die Insel idyllischer Sehnsuchtsort oder Ort der liminalen Erfahrung und der Begegnung mit dem Fremden. Als geografisches Faktum bildet sie zudem einen Bestandteil von kulturellen Narrativen und nationalen Poetiken, z.B. in der karibischen Literatur. Auch in Russland, obwohl ein sehr kontinentales Land, hat der Inseltopos große Bedeutung und dient immer wieder der kulturellen Selbstreflexion: von der Beschreibung der russischen Kolonisationsgeschichte als „inselbildend“ (V. Ključevskij) zur Charakterisierung des sowjetischen Lagersystems als „Archipel GULAG“ (A. Solženicyn) und von der insularen Mythopoetik phantastischer Gegenwelten bis zur literarischen Entfaltung der durch die russische Sprache nahgelegten semantischen Nähe von ostrov (Insel) und ostrog (Gefängnis) bei Andrej Bitov. Das Seminar betrachtet die historische Entwicklung des Inselmotivs in der russischen Geschichte chronologisch und vergleichend ab der Romantik mit speziellem Augenmerk auf der Reiseliteratur und Beispielen des insularen Denkens im kolonialen und imperialen Diskurs. Es wird nach Symboliken und Fantasien gefragt, die an das Insel-Motiv anknüpfen, mit dem Versuch, diese zu systematisieren. Bei der Analyse werden raumtheoretische Zugänge erarbeitet und Diskurse der nationalen Zugehörigkeit studiert. Gelesen/gesichtet wird u.a. Karamzins Ostrov Bornhol’m (1793), Gončarovs Fregat Pallada (1858), Dostoevskijs Zapiski iz mertvogo doma (1861), Čechovs Ostrov Sachalin (1891), A. Solženicyns Archipelag Gulag (1973), V. Aksjonovs Ostrov Krym (1979) und P. Lungins Film Ostrov (2006). |