Kommentar |
Es mag zunächst offensichtlich sein, worauf das Wort ‚Ruine’ verweist. Kulturgeschichtlich beladen wird der Begriff in der Regel mit den Überresten von imposanten, aus einer anderen Zeit stammenden und mittlerweile verfallenen Bauwerken assoziiert, die zudem eine bestimmt ästhetisch und affektive Erfahrung ermöglichen (Ehrfurcht, Vergänglichkeit, etc.). Dieses Verständnis reflektiert eine bestimmte, vor allem aus der Romantik stammende, westlich-bürgerliche Genealogie, die wir in diesem Seminar zunächst näher betrachten werden, um dann aus ihr auszubrechen. Denn es stellt sich natürlich die Frage: wann nehmen wir etwas als Ruine war und wann nicht? Wo und wie wird etwas zu einer Ruine? Wann bleibt es Schutt und Geröll, wann bleibt oder wird es (sichtbarem oder unsichtbarem) Lebensraum? Und was ist mit der Zerstörung der Natur? Was für politische und wirtschaftliche Perspektiven und Möglichkeiten ergeben sich aus den verschiedenen Wahrnehmungen und Definitionen? Und mit welchem Maßstab wollen wir arbeiten und wie differenzieren, wenn Zerstörung mittlerweile planetarisch ist?
Wir wollen in diesem Seminar also einerseits unsere Seh- und Wahrnehmungsgewohnheiten hinterfragen und uns ein Grundverständnis von relevanten Begriffen erarbeiten (z.B. Nostalgie). Andererseits wollen wir Prozesse der Zerstörung und des Verfalls in den Blick nehmen, die vielfältig ‚natürlich’ oder politisch und wirtschaftlich motiviert sein können. Nicht nur zielt politische (koloniale) Gewalt auch immer wieder auf die Zerstörung von Infrastruktur und Lebensräumen. Auch der Kapitalismus lebt von der Schaffung vermeintlich leerer und ruinöser Räume, die für die Wertschöpfung mobilisiert werden können. Wirtschaftliche Zyklen und Spekulationsblasen äußern sich materiell in der Form von Industrie- und Investitionsruinen. Als zerstörte Zukunftshoffnungen laden sie zudem dazu ein, die Temporalität solcher Orte und Strukturen in ihrer Komplexität zu analysieren. Die Frage der Temporalität stellt sich auch für Heritage-Diskurse und Praktiken, bei denen sich generell eine Abwendung vom Dogma der Konservierung hinzu einem Ansatz des ‚curated decay’ (DeSilvey 2017) abzeichnen lässt. Ein weiteres Thema wird die Wissensproduktion auf der Grundlage von Ruinen für Kämpfe um Gerechtigkeit sein (Stichwort ‚Forensic Architecture’).
Die Lektüre ist vorwiegend Englisch. |