Kommentar |
Aufrufe zur Solidarität sind heutzutage allerorten zu vernehmen. Sei es die Seenotrettung im Mittelmeer, sei es mit Opfer von Vertreibungen, kriegerischen Auseinandersetzungen, sexualisierter oder rassistischer Gewalt, sei es aber auch im Rahmen des Renten- und Sozialsystems – auf den verschiedensten Ebenen wird an unsere Solidarität appelliert. Doch auf welcher Grundlage geschieht das eigentlich? Ersetzten im 19. Jahrhundert einerseits die Nation und andererseits das Proletariat das christliche Fundament der Brüderlichkeit, die die Französische Revolution versprochen (aber nicht eingelöst) hatte, stehen diese Großsubjekte heute unter Ideologieverdacht. An ihre Stelle sind zahlreiche Identitäten getreten, die aber aus der Perspektive der Solidarität die Frage nur noch verschärfen, auf welcher Grundlage zwischen den einzelnen Gruppen Solidarität erwartet und gefordert werden kann. Mithilfe der im Seminar besprochenen Texte soll deshalb zunächst die Besonderheit der modernen, posttraditionalen Situation herausgearbeitet werden, in der Gemeinschaften nicht mehr unhinterfragte Geltung beanspruchen können und durch Gruppen ersetzt werden, die aufgrund von Arbeitsteilung oder gemeinsamen Handeln miteinander verbunden sind. Es sollen darüber hinaus aber auch jene Ansätze besprochen werden, die Solidarität gegen das hegemoniale Selbstverständnis einer Gesellschaft organisieren wollen. Und schließlich soll diskutiert werden, was sich daraus für das Vorhaben einer universellen Solidarität ergibt, die beansprucht, eine neue Form moderner Vergesellschaftung zu sein. |