Kommentar |
Die Spielpläne der deutschen Bühnen kennzeichnet seit den frühen 2000-er Jahren eine regelrechte Antikenlust, die sich bruchlos bis in die aktuelle Spielzeit fortschreiben lässt. Letzte Spektakel dieser Art boten Christopher Rüpings zehnstündige Textcollage Dionysos-Stadt oder die besetzungsstarke, splatterdominante Inszenierung eine griechische Trilogie von Simon Stone am Deutschen Theater. Was macht die Anschlussfähigkeit aus, was reizt am antiken Stoff, das zu Aktualisierung, Bearbeitung, Remix und Sample in immer neuen Variationen befeuert? Das SE will sich mit der Rezeption von antiken Dramenstoffen in aktuelleren Bearbeitungen beschäftigen, aber auch Blicke in die antiken Vorlagen nicht scheuen. Der Blick ist dabei weniger auf die Bühne, denn auf dramatische Textfassungen gelegt. Antike Dramenstoffe, Figuren und tragende Motiven sollen herausgearbeitet werden. Zu fragen ist nach Aneignung und Widerspruch, mythisch-stofflicher Konstanz oder Einbettung in ein gänzlich aktualisiertes, verfremdendes Gegenwartssetting. Was rechtfertigt den Anschluss an das antike Drama? Welche Diskurse werden mit welcher Tragfähigkeit in Aktualisierungen der Stoffe um Medea, Antigone oder Orest aufgerufen? Welchen Stand haben ‚Mythen in nachmythischer Zeit‘, um den Titel eines Anfang der 2000-er Jahre erschienenen Sammelband von Bernd Seidensticker und Martin Vöhler zu bemühen. ‚Tun - Leiden - Lernen‘: so lässt Aischylos’ den Chor in der Orestie selbstvergewissernd rufen. Ausdruck der fatalen Konsequenz einer solchen Haltung des Ertragens und Sich-Fügens in ein gottgewolltes Schicksal sind die blutigen archaischen Tragödien von Gatten- und Muttermord, von Rache, Schuld und Vergeltung. Wie dies in Fortschreibungen und Spielarten in Texten von Hugo von Hofmannsthal, Bertolt Brecht, Heiner Müller, Botho Strauß, Dea Loher, Elfriede Jelinek oder der jüngsten Generation von Dramatiker*innen wie Clemens J. Setz verhandelt wird, ist Gegenstand der Beschäftigung im Seminar. Die Auswahl der Stücke erfolgt nach gemeinsamer Sichtung. Anstelle eines Referats ist der Aufbau einer virtuellen Ausstellung bzw. die Erschließung von Texten für eine Online-Datenbank angedacht. Flankierende Theaterbesuche sind in Abhängigkeit der Berliner Spielpläne möglich.
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