Kommentar |
Neuere Einsichten haben traditionelle Vorstellungen von einer Kontinuität illusionistischer Traditionen in der westlichen Kultur von der Antike bis zur Gegenwart erschüttert. Es gibt keine ungebrochene Entwicklungslinie einer einheitlichen Illusionsbildung, sondern nur eine Abfolge historischer Illusionsdispositive, die sich qualitativ voneinander unterscheiden. Diese Abfolge ist durch viele Brüche, Diskontinuitäten, Widersprüche und Bilderkämpfe charakterisiert. Um die jetztzeitlichen Illusionspraktiken in ihrer Eigenart und Dynamik begreifen zu können, ist es unverzichtbar, die Geschichte der unterschiedlichen, historisch prägenden Illusionsdispositive in unserer Kultur zu befragen.
Schwerpunkte der Vorlesung bilden hierbei Antike, Renaissance und Barock.
(1) Antike. Das Feld der optischen Illusionen hat die griechische Antike schon früh als ein fundamentales Positionierungs- und Orientierungsproblem in der Navigation, der Kriegführung, im Städtebau u.a.m. beschäftigt. Artifizielle Illusionsverfahren als Effekte und Techniken optischer Medien wurden von Architekten, Theaterleuten, Malern, Bildhauern etc. entwickelt (z. B. Katagrapha, Skiagraphia, Skenographia). Von den Technikern der ästhetischen Illusionsbildung wurden die Geometer angeregt und der Herausbildung der Optik wichtige Anstöße gegeben.
(2) Renaissance. Um 1600 vollzog sich der Paradigmenwechsel von der antiken Hypothese der Emission eines Sehstrahls durch das Auge zum Modell der Introduktion von Lichtstrahlen ins Auge, das der Araber Ibn al-Haitam (ca. 965- 1041) begründet hat. Wiederum gingen die Experimente, Beobachtungen und Messungen der Maler und Architekten der theoretischen Optik voran. Als Entdecker der Zentralperspektive und Wegbereiter der Perspektivbühne der Renaissance hat Filippo Brunelleschi durch Bühnenkonstruktionen, bewegliche Apparate, Geräusch- und Lichteffekte zur Entwicklung eines neuen Illusionsdispositivs beigetragen. Die Bühnentechnik der Renaissance ist Teil der Medienrevolution (Buchdruck, graphische Reproduktionstechniken).
(3) Barock. So wie der antike Illusionismus aus medientechnischen Erfindungen hervorgegangen war, so ist auch der Barockillusionismus ein Effekt der Revolutionierung der mechanischen Künste auf neuen experimentellen und technologischen Grundlagen, die in der Renaissance begann. Im Barock wird der Doppelcharakter der ästhetischen Illusion – Lust an der Täuschung und an der Illusionsdurchbrechung – zum Charakteristikum, wie es sich beispielsweise im Trompe l’oeil und den Scheinarchitekturen zeigt. Im Anschluss an Friedrich Kittler (Optische Medien) werden die Bühnenmaschinerien im Jesuitentheater ebenso behandelt wie die Effekte der Laterna magica.
(4) Einen Einschnitt von epochenübergreifender Bedeutung markieren die neuen digitalen Bildtechnologien, die die Geschichte der Illusionsdispositive nicht etwa beenden, sondern mit neuartigen Mitteln fortsetzen. Immersive Strategien sollen alles Bisherige übertreffen. Kritische Betrachtung problematisiert das Ideal der totalen Immersion; sie zeigt Widersprüche und Grenzen auf und ordnet Immersion in unterschiedliche Formen des Involvement ein. Virtuelle Techniken, wie u. a. 360 Grad Filme, eröffnen neue Bildräume und erweitern die visuellen Gestaltungs- und Rezeptionsmöglichkeiten. Zugleich entwickeln sich neue Formen der Copräsenz von wahrnehmenden Akteuren und wahrnehmbaren Vorgängen. Der spielerische Umgang mit visual effects erneuert die Lust an der Illusion und an der Desillusionierung, die im historischen Wandel der Illusionsdispositive als ästhetische Grundtendenz wirksam bleibt. |