Kommentar |
Im Tagebuchroman überwiegt die Erzählzeit die erzählte Zeit: die Vergegenwärtigung des Erzählens im Akt des Aufschreibens, die Konzentration und Intensivierung in der monologischen Form des Erzählens (innerer Monolog und erlebte Rede), der Eindruck der Unmittelbarkeit des Erlebten. Als Roman ist das Tagebuch mit seiner Vielfalt an Möglichkeiten der Fiktionalisierung jedoch nicht nur ein „Buch der Seele“, wie man im 18. Jahrhundert sagte, oder in heutiger Zeit, eine Selbstdarstellung im Selfi-Format. In der Moderne des frühen 20. Jahrhunderts wird der so subjektiv zentrierte Tagebuchroman verwendet, um die subjektiven, intimen und so ganz ‚eigenen‘ Erfahrungen in der Problemkonstellation von Individuum und Gesellschaft zur Sprache zu bringen. Die bekannten Themen des Bildungs- und Erziehungsromans, des Künstlerromans und des ‚Frauenromans‘ werden hier anders und innovativ zur Sprache gebracht. Im Erlebniszentrum von Rilkes "Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge" (1908), Walsers "Jakob von Gunten" (1909) und Keuns "Das kunstseidene Mädchen"(1932) steht zudem die Großstadtmoderne von Paris und Berlin; der scheinbare Gegensatz von Privatheit / Intimisierung des Tagebuchs und Öffentlichkeit / Masse, Technik, Konsumwelt des "Texts der Stadt" zur Diskussion. |