Kommentar |
In der Episode des 'Tristan' Gottfrieds von Straßburg, die den Protagonisten als Lehrer Isoldes in den artes präsentiert, wird die Vervollkommnung der späteren Geliebten durch ihren künftigen Liebhaber an eine besondere, alles Wissen und Können überwölbende Kunst der Tugend gebunden: an die moraliteit (Trist., V. 8004 passim). Sie allein vermöchte es, die darin ausgebildete und geübte Adlige durch schœne site (V. 8005) und durch daz süeze lesen (V. 8008) in ein harmonisches, tätiges und verstehendes Verhältnis mit der werlde und mit gote (V. 8011) zu setzen. Wie eine solche Vorstellung von Moralität literarisch vorgestellt und insbesondere lyrisch umgesetzt werden konnte, zeigt exemplarisch der Benediktbeurer Codex Buranus (München, Stabi, Clm 4660 und 4660a). Er stellt die größte erhaltene Sammlung mittellateinischer weltlichen Lieder dar. In ihren Bestand mischen sich immer wieder auch volkssprachige Strophen von Spruchdichtern und Minnesängern wie Dietmar von Aist, Reinmar, Heinrich von Morungen, Walter von der Vogelweide, Otto von Botenlauben oder Neidhart ein. Zugleich ist der Codex mit Illuminationen ausgestattet und von Notenbildern (Neumierungen) durchzogen. Schon das macht ihn zu einem außerordentlichen Zeugnis des medialen Zusammenspiels von Sinn und Sinnen. Hinzu kommt die formale und thematische Vielfalt: Neben antiken bzw. antikisierenden quantitierenden Metren finden sich akzent- und reimgebundene Verse; über die Lyrik und ihre satirischen, erotischen und symposiastischen Sujets hinaus aber auch didaktische (zumal spieldidaktische), klerikale und höfische Gegenstände sowie – nicht zuletzt und weniger beachtet – zwei geistliche Theaterstücke: ein Propheten- und ein Weihnachtsspiel. Ziel des Seminars ist es nicht, aus solcher Fülle so etwas wie die "Lebensfülle" des Mittelalters zu reanimieren (wie es die Vertonung der 'Carmina Burana' durch Carl Orff von 1937 nahelegt), sondern entschieden im Widerspruch dazu die rhetorischen und dialektischen, antik mythologischen und theologischen, kurz: die gelehrten und gebildeten Dimensionen der Sammlung in der Vordergrund zu stellen, in denen sich eine mittelalterliche Poetik des moralischen Wissens und seiner Spielräume abzeichnet. |