Kommentar |
Wir sind es gewohnt, Avantgarden als subversive bis revolutionäre Bewegungen zu verstehen, die nicht nur vom Kunstestablishment sowie dessen Stildiktat befreien wollen, sondern von gesellschaftlichen Normen, Konventionen und Autoritäten überhaupt. Entsprechend imaginieren sie sich als Prophet*innen und Schöpfer*innen einer neuen Welt, in der jegliche konservative Verhärtung aufgelöst ist zugunsten einer freien Entfaltung des Chaotischen als Urgrund des Kreativen. Doch wofür steht „Avantgarde“ eigentlich? Als Metapher der Vorhut aus dem Militär entnommen, lässt sich Avantgarde auch als „vorderste Front“ oder Vorwegnahme gesellschaftlicher Gesamttendenzen begreifen. Daraus erschlösse sich, weshalb die meisten avantgardistischen Manifeste, ob sie sich selbst so betiteln oder nicht, eine Umwertung aller Werte vollzogen haben, seit welcher Beweglichkeit, Liquidität und Dynamik zum Leben selbst erhöht worden sind. Im Q-Tutorium wollen wir gemeinsam der Frage nachgehen, ob diese Umwertung in Verbindung steht zu einem neuen Geist des Kapitalismus, der weniger von traditionellen Paradigmen wie Hierarchie und Stabilität beseelt ist als von denen permanenter Innovation und kreativer Destruktion. Dafür werden wir in erster Linie Manfredo Tafuris Kapitalismus und Architektur heranziehen, demzufolge die historischen Avantgarden den Schock der Akkumulation Großstadt und der akzelerativen Technologien positiv umgewertet und somit weiter enthemmt sowie kapitalistisch verwertbar gemacht haben. Um diese These als Forschungsfrage auch an unsere Zeit zu richten, werden wir außerdem das Einführungskapitel von Boltanskis und Chiapellos „Der neue Geist des Kapitalismus“ lesen, worin die avantgardistische Künstlerkritik der 68er als Movens des neuesten Kapitalismus analysiert ist. Der Horizont unseres Tutoriums soll damit sowohl die historischen Avantgarden (Futurismus, Dada, Surrealismus etc.) und die Neoavantgarden der Nachkriegszeit (action painting, performance art, informal etc.) als auch 1968 und seine postmodernen Folgen umspannen, um die Avantgarden des 20. und 21. Jahrhunderts gemeinsam mit unserer gegenwärtigen Zeit auf einen kritischen Prüfstand zu stellen. Um dieses ambitionierte Vorhaben realisieren zu können, heißen wir Teilnehmende aller fachlichen Hintergründe und Universitäten im Q-Tutorium gerne willkommen. Das forschende Lernen, das wir gemeinsam praktizieren möchten, würde besonders bereichert von Studierenden der Kulturwissenschaft, der (Kunst-)Geschichte, der Architektur, der Literaturwissenschaften, der Philosophie, der Wirtschaftswissenschaften und der Soziologie. |
Literatur |
Manfredo Tafuri (1977) Kapitalismus und Architektur. Von Corbusiers ‚Utopia’ zur Trabantenstadt, Berlin: VSA.
Boltanski, Luc; Chiapello, Ève (2018) Der neue Geist des Kapitalismus, Köln: édition discours.
Manifeste der Avantgarden.
Vorbereitende Lektüre Benjamin, Walter (2015) Das Passagen-Werk. Erster Band. Paris, die Hauptstadt des XIX. Jahrhunderts, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Bürger, Manfred (1974) Theorie der Avantgarde, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
De Toledo, Camille (2005) Bonjour Tristesse. Bekenntnisse eines unangenehmen Zeitgenossen, Berlin: Tropen.
Enzensberger, Hans Magnus (1976) Einzelheiten II. Die Aporien der Avantgarde, Frankfurt am Main: Suhrkamp.
Marx, Karl (2013) Werke, Band 23. Das Kapital. Kritik der politischen Ökonomie. Erster Band, Berlin: Dietz Verlag.
Simmel, Georg (2006) Die Großstädte und das Geistesleben, Frankfurt am Main: Suhrkamp. |