Kommentar |
Aleksandr Iličevskij und Sergej Lebedev sind zwei der wichtigsten Autoren von russischen Romanen der Gegenwart. Der eine stammt aus Aserbaidschan und lebt in Israel, der andere lebt in Moskau. Dmitrij Kuzmin ist russischer Dichter und gehört zu den wichtigsten Literaturkritikern der Gegenwart. Er lebt in Lettland und schreibt wie der lettische Dichter Aleksandr Zapol (alias: Semen Chanin) russisch. Boris Chersonskij und Andrej Kurkov sind zwei der bekanntesten ukrainischen Gegenwartsautoren. Sie schreiben auf Russisch. Dasselbe trifft für den aserbajdschanischen Dichter Nidžat Mamedov zu, der als bester junger Dichter seines Landes gilt. Katja Petrowskaja und Julia Kissina leben seit vielen Jahren in Deutschland. Petrowskaja ist nicht nur aufgrund ihres opaken Deutsch schwer national zuzuordnen, Kissina gilt als in Deutschland lebende russische Schriftstellerin. Eugene Ostashevsky schreibt amerikanisches Englisch, lebt in Berlin, und seine Texte klingen jedem Charms-kennenden russischen Ohr nicht erst in der russischen Übersetzung vertraut. Wo also liegen die Grenzen der russischen oder russischsprachigen Literatur der Gegenwart? Wie soll man sie definieren, einteilen und klassifizieren? Wird man ihr mit strengen Grenzziehungen und nationalen Zuschreibungen überhaupt gerecht? Was hat die in vielen Ländern der Welt auf Russisch geschriebene Literatur überhaupt noch mit dem Land Russland zu tun? Wer darf überhaupt den Anspruch erheben, ein „russischer“ Autor genannt zu werden? Welche Implikationen hat es, wenn man weiterhin zwischen „russischer“ und „russischsprachiger“ Literatur unterscheidet? Und welche Konsequenzen hätte es, wenn man eine solche Differenzierung vermeidet? Soll und kann man die russische Literatur heute als „national“ oder als „post-imperial“ oder als „eurasisch“ oder als „multinational“ beschreiben? Diesen Fragen werden wir im Seminar anhand von Lektüren der Primärtexte, anhand des Studiums der Selbstpositionierungen der Autoren und ihrer Rezeption, aber auch anhand von aktuellen Strategien der Kanonisierung in neuen Literaturgeschichten, auf Internetplattformen und mithilfe von literaturpolitischen Maßnahmen (Preise) in und außerhalb Russlands nachgehen, um schließlich zu den Ausgangsfragen zurückzukehren: Wie kann man die russische Literatur der Gegenwart definieren? Oder: Wie viele russische Literaturen gibt es heute? Und: Wie sollte man im 21. Jahrhundert ihre Geschichte schreiben? |