Kommentar |
In seiner "Ethica" erhob Abaelard (1079–1142) das Gewissen des Einzelnen zum obersten Kriterium für die Beurteilung der Moralität einer Handlung. In dieser zwischen 1135 und 1139 verfassten Schrift, der er zwei Titel gab: Ethica oder Scito te ipsum (Erkenne dich selbst), erörtert Abaelard die Frage nach dem Guten und dem Bösen, vor allem aber erstmals die Bedeutung des Gewissens für die Selbstbestimmung des Menschen. Er unterscheidet zwischen der Schwäche des Menschen, die durch Selbstbeherrschung überwunden werden kann, und der Sünde, die darin besteht, sich den eigenen Schwächen zu unterwerfen. Seine These, das Gewissen sei die oberste Instanz der Moral und die Moralität oder Verwerflichkeit einer Handlung bestimme sich daher aus der Gesinnung des Handelnden, führte ihn zu der Folgerung, dass derjenige, der böse handelt, ohne es doch selbst zu wissen, dadurch noch nicht schuldig wird - sondern erst dann, wenn er entgegen besserer Einsicht, die ihm aufgegeben und möglich ist, das Böse wählt. Diese Behauptung stieß bei den Zeitgenossen und der Kirche auf Kritik und führte (neben anderen Punkten seiner theologischen Lehre) zur Verurteilung Abaelards auf dem Konzil von Sens (1141); wirkungsgeschichtlich gewann sie gleichwohl große Kraft und Bedeutung, da durch diesen Gedanken die überkommene Doxa, allein der Verstoß gegen moralisch geltende Regeln gebe den Maßstab dafür ab, ein Individuum der Sünde zu bezichtigen, dahingehend zu relativieren, dass nur der sich schuldig macht, der auch wusste, dass er eine Verfehlung begeht. Aus diesem Grund zählt die Schrift zu den bedeutendsten Werken der Weltliteratur. In dieser Übung werden wir ausgewählte Abschnitte dieses Werkes übersetzen und mit Blick auf seinen intellektuellen Kontext erörtern.
Literatur: Ausgabe P. Abaelard, Scito te ipsum/Erkenne dich selbst. Lateinisch-Deutsch. Übersetzt und herausgegeben von Ph. Steger, Leipzig: Meiner, 2014. Sekundärliteratur: J. E. Brower, K. Guilfoy (Hrsg.): The Cambridge companion to Abelard. Cambridge Univ. Press, Cambridge u. a. 2004; U. Niggli (Hrsg.): P. Abaelard. Leben – Werk – Wirkung. Herder, Freiburg u. a. 2003; M. Perkams: Liebe als Zentralbegriff der Ethik nach Peter Abaelard. Aschendorff, Münster 2001.
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