Kommentar |
„Total Strangers“ – so nannte der amerikanische Kinderpsychiater Leo Kanner 1943 eine Gruppe seiner Patienten. Sie seien anderen gegenüber gleichgültig, würden nicht kommunizieren, lebten in einer eigenen Welt. Kanner bezeichnete sie als „autistisch“ (selbstisch). Zeitgleich beschrieb der Kinderarzt Hans Asperger in Wien „autistische Psychopathen“: Kinder ohne sozialen „Instinkt“. Autismus, als eigenständiges Syndrom, war in der Welt.
Heute versteht man Autismus als „tiefgreifende Entwicklungsstörung“, die sich im Kindesalter zeigt, aber ein Leben lang anhält. Nach aktueller Definition äußert sich Autismus v.a. in beeinträchtigter Kommunikations- und Sozialfähigkeit und eingeschränkten, repetitiven Verhaltensmustern. Der enorme Anstieg der Diagnosen wird oft zur „Epidemie“ erklärt. Autismus ist Gegenstand zahlloser wissenschaftlicher Studien, aber auch Thema in Presse und Internetforen. In Romanen, Filmen und Serien treten autistische Figuren auf. Der prototypische Autist, in den 1940er Jahren ein stummes, psychotisches Kind, ist derzeit ein hochintelligenter Nerd mit außergewöhnlichen Talenten. Zugleich werden Äußerungen von Menschen mit Autismus vernehmbarer. Viele von ihnen kämpfen dafür, dass er nicht als Defizit gesehen wird, sondern als Ausdruck menschlicher Vielfalt.
Anhand von psychiatrischen, literarischen und populärkulturellen Autismus-Darstellungen gehen wir der Kultur- und Wissensgeschichte des Autismus nach. Innerhalb welcher kultureller Kontexte sind bestimmte Konzepte des Autismus entstanden? Wie tragen wissenschaftliche und künstlerische Darstellungsweisen – und ihre gegenseitigen Resonanzen – zu unserem Wissen von Autismus bei? Und worin liegt die heutige Prominenz ‚des Autisten’ begründet? Lässt er sich als zeitdiagnostische Figur verstehen, an der sich wesentliche Fragen und Debatten unserer Zeit ablesen lassen? |