Kommentar |
Die gegenwärtig omnipräsente Rede von „Eliteuniversitäten“, „Exzellenzinitiativen-, clustern und -strategien“ sowie „Zukunftskonzepten“ und „Spitzen- und Höhenkammforschung“ hat die Rolle, Positionierung und gesellschaftliche Wahrnehmung der bundesrepublikanischen Universitäten in Bewegung gebracht. Die Vorlesung geht der Frage nach, welche historischen Vorläufer rezente Vorstellungen von geistiger Exzellenz und Höchstbegabung, Begabtenselektion und -förderung, kurz: eine vertikale Differenzierung der Wissenschaftslandschaft, haben.
Ein Rückblick in die Kultur-, Geistes- und Naturwissenschaftsgeschichte zeigt, dass heutige Exzellenz-Rhetoriken unter anderem in der wissenschaftshistorischen Unterscheidung zwischen „genialen“ und „nicht-genialen“ Menschen gründen. Diese wurde um 1900 in hunderten Publikationen quer durch die Fachdisziplinen überaus hitzig diskutiert, unter anderem bei Helga Baisch, Walter Benjamin, Houston Steward Chamberlain, W. Lange-Eichbaum, C. Lombroso, R. Saitchick, Jakob Wassermann, Otto Weininger und Edgar Zilsel. Welche glorifizierenden Zuschreibungen und epistemologischen Funktionen kamen der Wissensfigur des Genies in der damaligen Scientific Community zu? Welche politischen, rassentheoretischen und geschlechtsspezifischen Implikationen transportierte sie Ende des 19. Jahrhunderts und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts? Wie versuchten Autoren und Kollektive, sich mittels der Geniefigur ihrer eigenen intellektuellen und schöpferischen Potenz zu versichern? — Das "Genie" wurde mit Eigenschaften wie Männlichkeit, Weißsein und Europäizität symbolisch aufgeladen, ebenso mit Einsamkeit, privatem Unglück, Melancholie und sexueller Askese, aber auch mit Originalität, Phantasie, Innovationskraft, Transzendenz und Göttlichem. Der Einsatz des abstrakten wissenschaftlichen Begriffs „Genie“ produzierte einen „eigentümlichen Denkzauber“ (L. Fleck), der maßgeblich an der Konstitution und Konsolidierung von „Denkkollektiven“ sowie Elite-Forschungseinrichtungen beteiligt schien. Wie unterscheidet sich die historische Form der Selbstgenialisierung von Prozessen in der heutigen Alma Mater (Förderung von Forschungsverbünden, Austausch, internationaler Wettbewerbsfähigkeit)?
Die Vorlesung diskutiert diese Fragen entlang von Texten und Theorien von H. Blumenberg, J. Derrida, R. Girard, M. Hagner, D. Haraway, J. Hirsch, E. Kris/O. Kurz, J. Kristeva, Th. Macho, D. M. McMahon, F. Nietzsche, E. Zilsel.
Die Vorlesung findet im Zusammenspiel mit einem internationalen und interdisziplinären Symposium statt, das im Januar 2017 realisiert wird und an dem sich interessierte Studierende beteiligen können. |