Kommentar |
Auf der Suche nach Quellen, denen die Poesie noch im Naturzustand bildungsferner Ursprünglichkeit entfloss, stoßen Dichter und Gelehrte im 18. Jahrhundert – zur selben Zeit, als die Verbreitung der Schriftkultur dank expandierendem Buchmarkt und voranschreitender Alphabetisierung stetig zunimmt – auf Lieder und Geschichten, die bislang vor allem mündlich zirkulierten. Aufmerksam geworden durch den Band Reliques of Ancient Poetry (1765) des englischen Bischofs Thomas Percy, ist es vor allem Johann Gottfried Herder, der sich für Volkslieder begeistert – „je älter, je volksmäßiger, je lebendiger, desto kühner“ –, die Entdeckung der Gesänge des gälischen Barden Ossian feiert und eine Sammelleidenschaft für Vergessenes, Verschüttetes entfacht, die bis weit ins 19. Jahrhundert anhält. Goethe sammelt während seines Jurastudiums im Elsass Volksballaden; Gottfried August Bürger veröffentlicht 1776 einen „Herzensausguß über Volks Poesie“; die Romantiker Achim von Arnim und Clemens Brentano füllen mit ihren Fundstücken „Des Knaben Wunderhorn“; Jacob und Wilhelm Grimm tragen Kinder- und Hausmärchen und auch alte Sagen zusammen; von diesen Kollektionen sind später die regionalpoetischen Sammlungsprojekte der Annette von Droste-Hülshoff in Westfalen sowie Theodor Storms in Schleswig und Holstein inspiriert. – Im SE wird es um die sozialen und politischen Implikationen der Idee des „Volks“ gehen, die hinter diesen Unternehmungen steht, um die Annäherungen und Abgrenzungen zwischen „Volkspoesie“ und „Kunstpoesie“, vor allem aber um die Praxis des Sammelns, um die ästhetischen, ethnographischen und anthropologischen Prämissen der so betriebenen Schatzbildung. Wie kamen die Sammler zu ihrem Material, nach welchen Kriterien wählten sie es aus? Welche redaktionellen Eingriffe nahmen sie vor, und aus welchem Grund? In welches Verhältnis setzten sie die Poesie des deutschen Volks im Singular zu Völkern im Plural? Wie sah das Zusammenspiel von Sammlern, Herausgebern und Verlegern bei der Produktion von Volksausgaben einerseits, von philologisch-kritischen Editionen andererseits aus?
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