Kommentar |
Mehr als ein Jahrhundert nach einem spektakulären Mordfall in der ruralen Normandie von 1835 veröffentlichte Michel Foucault das Dossier Moi, Pierre Rivière, ayant egorgé ma mère, ma soeur et mon frère (1973). Juristische und medizinische Gutachten, Presseartikel und ein Memoire, verfasst vom Mörder selbst, aus der Zeit des Verfahrens, finden sich hier neben Artikeln von Foucault und Kollegen. In ähnlicher Form veröffentlichte und kommentierte Foucault mit Herculine Barbin dite Alexina B. (1978) eine Sammlung von „Diskursfragmenten“ des 19. Jahrhunderts, die eine Existenz beschreiben, welche durch die erzwungene Festlegung ihres „wahren Geschlechts“ von den Institutionen zum Fall gemacht wird. Zentral für diese Dossiers und dabei besonders beeindruckend aber auch verunsichernd sind jene Texte, die Rivière und Barbin persönlich verfasst haben und deren Status zwischen Zeitdokument und Literarizität offen bleibt.
Auf der Basis der beiden Dossiers widmen wir uns im Q-Tutorium zunächst der Frage, wie aus Existenzen Fälle werden und was passiert, wenn diese zu „sprechen“ beginnen. Im Anschluss sollen Form, Auswahlprinzip und Zusammensetzung der Dossiers selbst untersucht werden. Wie beeinflussen die Sammlungen den Diskurs über die Fälle? Welche Rolle spielt dabei das Archiv als System der Macht, des Ordnens und des Bewahrens? Schließlich wollen wir die Fragestellung erweitern und solche zeitgenössische Formate wie den Podcast Serial oder die TV-Serie Making a Murderer einbeziehen, die als kuratierte Veröffentlichungen originaler Dokumente untersucht werden können. Ausgangspunkt für eine theoretische Annäherung bildet dabei Foucaults Archiv-Konzept aus der Archäologie des Wissens (1969). Somit soll im Tutorium nicht zuletzt der Versuch unternommen werden, über die Untersuchung verschiedener Sammlungskonzepte einen Zugang zu diesem komplexen Begriff zu finden.
Im Mittelpunkt des Q-Tutoriums stehen die Interessengebiete der Studierenden selbst, die in längeren Forschungsphasen ausgearbeitet werden sollen. Hier können einzelne Aspekte der Dossiers oder filmische Adaptionen der „Fälle“ (z.B. Moi, Pierre Rivière von René Aillo), aber auch zeitgenössische Beispiele untersucht werden. Alle Studierenden in Bachelor- und Masterstudiengängen die Lust haben, sich eingehend mit den teils ungewöhnlichen Texten auseinanderzusetzen, sind herzlich willkommen. Am Institut für deutsche Literatur ist das TUT als Begleitung zum Modul Lit.wiss. als Kulturwissenschaft vorgesehen. |
Literatur |
Foucault, Michel. Das Leben der infamen Menschen. Berlin: Merve, 2001. Foucault, Michel (Hrsg.). Der Fall Rivière. Materialien zum Verhältnis von Psychiatrie und Strafjustiz. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1975. Foucault, Michel. Die Archäologie des Wissens. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1981. Schäffner, Wolfgang und Joseph Vogl (Hrsg.). Über Hermaphrodismus. Der Fall Barbin. Michel Foucault. Gender Studies. Frankfurt a. M.: Suhrkamp, 1998. |